Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
zusammengebrochen. Wenn du nicht da gewesen wärst, wäre es sicher passiert.«
»Aber ich war ja da.« Kirby drückte Jos Hand. »Und du bist stärker, als du denkst. Stark genug, um damit fertig zu werden.«
»Ich muß.« Jo nahm noch einen Schluck Tee und stellte dann die Tasse ab. »Ich muß zurück zu Nathan.«
»Du mußt heute abend gar nichts mehr tun, außer dich ausruhen.«
»Doch. Ich habe ihn nicht gefragt, warum und wie und …« Sie schloß die Augen. »Ich will die Antworten wissen. Ich kann ohne diese Antworten nicht damit leben. Bevor ich nach Hause zu meiner Familie gehe, muß ich die Antworten kennen.«
»Ich kann dich zu ihm begleiten. Wir könnten die Fragen gemeinsam stellen.«
»Ich muß es allein tun, Kirby.« Als Jo die Augen öffnete, stachen sie dunkel aus ihrem bleichen Gesicht hervor. »Ich liebe den Mann, dessen Vater meine Mutter ermordet hat.«
Als Kirby sie vor Nathans Cottage absetzte, konnte Jo durchs Fenster seine Umrisse erkennen. Sie fragte sich, ob es für sie beide im ganzen Leben je etwas Schwereres geben würde, als miteinander und mit der Vergangenheit konfrontiert zu sein.
Wortlos öffnete er ihr die Tür und ließ sie eintreten. Er hatte damit gerechnet, sie niemals wiederzusehen, aber als sie vor ihm stand, wußte er nicht, was schwerer gewesen wäre – damit zu leben oder sie so zu sehen: bleich und gebrochen.
»Ich muß dich fragen … ich muß es wissen.«
»Ich werde dir alles sagen, was ich weiß.«
Sie rieb die Hände aneinander und versuchte, sich auf den Schmerz zu konzentrieren. »Haben sie … waren sie zusammen?«
»Nein.« Er wollte sich abwenden, zwang sich dann aber, dem Schmerz in ihren Augen standzuhalten. »Es war nichts zwischen ihnen. Sogar in seinem Tagebuch hat er geschrieben, wie sehr sie ihre Familie liebte. Ihre Kinder, ihren Mann. Jo …«
»Aber er wollte es, er wollte sie.« Sie öffnete die Hände. »Haben sie gekämpft? War es ein Unfall?« Ihr Atem stockte. Ihre Frage war ein Flehen. »Es muß ein Unfall gewesen sein.«
»Nein.« Mein Gott, es ist alles viel schlimmer, dachte er. »Er kannte ihre Gewohnheiten. Er hat sie beobachtet. Er wußte, daß sie nachts oft im Garten spazierenging.«
»Sie… sie liebte die Blumen bei Nacht.« Nochmals rollte vor ihren Augen der Traum ab, den sie in der Nacht gehabt hatte, als sie Susan Peters gefunden hatten. »Besonders die weißen. Sie liebte ihren Duft und die Stille. Sie nannte es ihre Stunde.«
»Er hat die Nacht gewählt«, fuhr Nathan fort. »Er hat meiner Mutter eine Schlaftablette in den Wein gegeben, so daß sie … sein Verschwinden nicht bemerkte. Alles, was er tat, hat er in seinem Tagebuch festgehalten. Er hat geschrieben, daß er am Waldrand westlich des Hauses auf Annabelle wartete.« Mit jedem seiner Worte, jedem Blick in Jos Gesicht starb er ein
bißchen mehr. »Er schlug sie nieder und schleppte sie in den Wald. Er hatte alles vorbereitet – die Beleuchtung, das Stativ. Es war kein Unfall, es war überlegt, geplant, kalkuliert.«
»Aber warum?« Jo mußte sich setzen. Steifbeinig wankte sie zum Sessel. »Ich kann mich gut an ihn erinnern. Er war freundlich zu mir. Und geduldig. Er ist mit Daddy zum Fischen gegangen. Und Mama hat ihm Nußkuchen gebacken, weil er ihn so gern mochte.« Sie stieß ein hilfloses Schluchzen aus, preßte die Hand auf den Mund, um es zu unterdrücken. »Ich kann nicht glauben, daß er sie ohne Grund umgebracht hat.«
»Er hatte einen Grund.« Er ging in die Küche und kam mit einer Flasche Scotch wieder. »Einen aberwitzigen Grund.«
Er goß sich ein Glas ein und stürzte es in einem Zug hinunter. Dann wartete er einige Augenblicke, bis die Wirkung des Alkohols einsetzte.
»Ich habe ihn geliebt, Jo. Er war ein wunderbarer Vater. Wenn er unterwegs war, hat er immer zu Hause angerufen – nicht nur, um mit meiner Mutter zu sprechen, sondern mit uns allen. Und er hörte zu – nicht so wie viele Erwachsene, die nur so tun, als hörten sie Kindern zu. Er war wirklich interessiert.«
Er wandte sich wieder Jo zu. »Er hat meiner Mutter Blumen mitgebracht, einfach so. Wenn ich abends im Bett lag, habe ich sie zusammen lachen hören. Wir waren glücklich, und er war der Mittelpunkt. Aber jetzt muß ich erkennen, daß es keinen Mittelpunkt gab, daß er fähig war, etwas Entsetzliches zu tun.«
»Ich fühle mich ausgehöhlt«, brachte Jo heraus. »Ausgehöhlt. Erschöpft. All die Jahre …« Sie schloß einen Moment die Augen.
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