Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
mir. Ich sehe aus wie meine Mutter. Es liegt nahe, daß sich eine Obsession für sie auf mich überträgt.«
»Glaubst du, ich hätte nicht auch daran gedacht? Als wir Susan Peters fanden und ich sah, wie sie umgebracht worden war, dachte ich … Aber ich bin der einzige Überlebende meiner Familie, Jo. Ich habe meinen Vater begraben.«
»Hast du auch deinen Bruder begraben?«
Er starrte sie an, schüttelte den Kopf. »Kyle ist tot.«
»Woher weißt du das? Weil irgendwelche Leute behaupten, er sei betrunken von einem Boot gefallen? Und was, wenn er lebt, Nathan? Er hatte die Fotos, die Negative und das Tagebuch.«
»Aber er ist ertrunken. Er war laut den Leuten, die mit ihm auf der Jacht waren, betrunken und deprimiert. Erst am nächsten Morgen haben sie sein Verschwinden bemerkt. Seine ganzen Klamotten, seine Fotoausrüstung waren noch auf dem Boot.«
Als Jo nichts sagte, begann er, unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen. »Ich muß akzeptieren, was mein Vater getan hat. Und jetzt soll ich glauben, mein Bruder sei noch am Leben und verantwortlich für all das? Für deinen Zusammenbruch und …« Er blieb ruckartig stehen. »Für den Mord an Susan Peters.«
»Meine Mutter wurde erwürgt, nicht wahr, Nathan?«
»Ja.«
Jo zwang sich, Ruhe zu bewahren, einen Schritt nach dem anderen zu machen. »Susan Peters wurde vergewaltigt.«
Nathan begriff, was Jo wissen wollte. Gequält schloß er die Augen. »Ja.«
»Wenn es nicht ihr Mann war …«
»Die Polizei hat keinerlei Beweise gegen den Ehemann gefunden. Sie haben ihn wieder auf freien Fuß gesetzt. Ich habe mich auf dem Rückweg eigens danach erkundigt.« Die nun folgenden Worte fielen ihm besonders schwer. »Jo Ellen, sie werden nach dem Mord an Susan Peters Ginnys Verschwinden neu aufrollen.«
»Ginnys Verschwinden?« Während Jo begriff, machte sich Entsetzen in ihr breit. »O nein, Ginny.«
Er konnte sie nicht berühren, konnte ihr keinen Trost bieten. Langsam trat er hinaus auf die Veranda, stützte sich auf das
Geländer und starrte ins Leere. Als er hinter sich das Quietschen der Tür hörte, richtete er sich wieder auf.
»Weshalb hat dein Vater das getan, Nathan? Welchen Zweck hatten die Fotos, wenn er sie niemals jemandem zeigen konnte?«
»Perfektion. Kontrolle. Nicht nur zu beobachten und festzuhalten, sondern das Bild zu erschaffen. Die perfekte Frau, das perfekte Verbrechen, das perfekte Bild. Sie war schön, intelligent, anmutig. Sie allein war die Sache wert.«
Nachdenklich betrachtete er die Glühwürmchen, die in der Dunkelheit ihre Kreise zogen. »Ich hätte es euch allen gleich sagen sollen, direkt nach meiner Ankunft. Aber ich brauchte selbst noch Zeit, um alles zu begreifen. Zuerst habe ich mein Zögern gerechtfertigt, indem ich mir eingeredet habe, ihr hättet die Unwahrheit akzeptiert. Und die Wahrheit ist um so viel grausamer. Und dann habe ich geschwiegen, weil ich dich wollte. Du warst verletzt. Ich wollte warten, bis du mir vertrautest, bis du dich in mich verliebtest.«
Seine Fingern spielten nervös am Geländer, während sie hinter ihn trat. »Solche Rechtfertigungen funktionieren eine Zeitlang sehr gut. Aber nach dem Mord an Susan Peters konnte ich die Wahrheit nicht länger ignorieren, dein Recht, es zu erfahren. Ich kann an dem, was geschehen ist, nichts mehr ändern. Ich kann nichts tun, um den Schaden, den mein Vater deiner Familie zugefügt hat, zu lindern.«
»Nein, du kannst nichts mehr tun. Er hat mir meine Mutter weggenommen, hat uns in dem Glauben leben lassen, sie hätte uns verlassen. Dieser grausame, selbstsüchtige Akt hat unsere Leben zerstört, hat unserer Familie einen Riß zugefügt, den wir nicht kitten können.« Jos Stimme zitterte; sie biß sich auf die Lippe, um weitersprechen zu können. »Sie muß voller Angst, voller Panik gewesen sein. Sie hat nichts getan, um es zu verdienen, außer daß sie war, wie sie war.«
Sie sog die Seeluft tief ein, atmete sie wieder aus. »Ich wollte dich dafür verantwortlich machen, Nathan. Weil du hier bist. Weil du ein Leben lang eine Mutter hattest. Weil du mich geliebt und mir ein Gefühl gegeben hast, das ich noch nie erlebt hatte. Ich mußte dir die Schuld geben, und ich habe es getan.«
»Damit habe ich gerechnet.«
»Du hättest es mir nicht sagen müssen. Du hättest für den Rest deines Lebens schweigen können. Ich hätte es nie erfahren.«
»Aber ich hätte mit diesem Wissen leben müssen. Jeder einzelne Tag wäre eine Lüge gewesen.« Er drehte
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