Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
würde die Panik sie wieder überfallen. »Ich will nichts davon hören.«
»Mir fällt es auch nicht leicht, aber wir haben keine andere
Wahl.« Er blickte ihr ins Gesicht. »Mein Vater hat deine Mutter getötet.«
»Das ist ja verrückt, Nathan.« Sie wollte aufspringen und wegrennen, aber sie konnte sich nicht bewegen. »Und grausam.«
»Ja, das ist es. Und es ist die Wahrheit. Vor zwanzig Jahren hat mein Vater deine Mutter umgebracht.«
»Nein, Nathan. Dein Vater, Mr. David, war nett, er war unser Freund. Du redest irr. Meine Mutter ist weggelaufen.« Ihre Stimme zitterte, brach, kehrte zurück. »Sie ist weggelaufen.«
»Sie hat Desire nie verlassen. Er … er hat ihre Leiche im Sumpf vergraben.«
»Warum sagst du das? Warum tust du das?«
»Weil es die Wahrheit ist und ich schon zu lange den Mund gehalten habe.« Nathan zwang sich, auch den Rest zu erzählen, während Jo die Augen schloß und wild den Kopf schüttelte. »Er hat es in dem Moment geplant, als er sie zum ersten Mal sah.«
»Nein. Hör auf damit!«
»Ich kann es nicht rückgängig machen. Er hat sein Tagebuch und … und Beweise in einem Banksafe aufbewahrt. Ich habe es nach dem Tod meiner Eltern gefunden.«
»Du hast es gefunden.« Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie ihre Knie umschlang und ihren Körper hin und her wiegte. »Und bist hierher zurückgekehrt.«
»Ich bin zurückgekommen, um mich der Vergangenheit zu stellen, um mich zu erinnern, wie jener Sommer war. Wie er war … damals. Und um zu entscheiden, was ich tun soll – es ruhen lassen oder es deiner Familie sagen.«
Das vertraute Gefühl aufsteigender Panik erfüllte sie, toste in ihrem Kopf. »Du hast es gewußt. Die ganze Zeit hast du es gewußt. Deshalb bist du zurückgekommen. Und du hast mit mir geschlafen, während du es gewußt hast.« Vor Ekel wurde ihr schwindlig, als sie aufsprang. »Du warst in mir.« Wut durchfuhr sie, bevor sie ihn ohrfeigte. »Ich habe es zugelassen.« Sie ohrfeigte ihn erneut, und er verteidigte sich nicht, noch wich er ihr aus. »Weißt du eigentlich, wie ich mich fühle?«
Er hatte gewußt, daß sie ihn voll Haß, Abscheu und sogar Angst ansehen würde. Und er mußte es akzeptieren. »Ich hab’s mir nicht klargemacht. Mein Vater … er war mein Vater!«
»Er hat sie getötet, hat sie uns weggenommen. Und all die Jahre …«
»Jo, ich habe es erst nach seinem Tod erfahren. Seit Monaten versuche ich, es zu begreifen. Ich weiß, was du jetzt durchmachst …«
»Wie kannst du das wissen?« Sie stieß die Worte hervor. Sie wollte ihn verletzen, ihn leiden lassen. »Ich kann hier nicht bleiben. Ich kann dich nicht ansehen. Nein!« Mit geballten Fäusten machte sie einen Satz zurück, als er die Hand nach ihr ausstreckte. »Wenn du mich anfaßt, du Mistkerl, bringe ich dich um.« Sie drehte sich um und rannte davon. Nathan versuchte nicht, sie aufzuhalten. Aber er folgte ihr in einigem Abstand. Wenn er sonst nichts tun konnte, wollte er wenigstens sicher sein, daß sie heil in Sanctuary ankam.
Aber sie lief nicht nach Sanctuary.
Sie konnte nicht nach Hause. Konnte den Gedanken daran nicht ertragen. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden geworfen, sich zusammengekrümmt und hemmungslos geweint. Aber sie hatte Angst, daß sie nicht mehr die Kraft fände, wieder aufzustehen.
Also rannte sie weiter. Ohne Ziel, durch den Wald, durch die Dunkelheit, während sich in ihrem Kopf die Bilder jagten.
Das Foto von ihrer Mutter war wieder lebendig geworden. Langsam öffneten sich die Augen. In ihnen lagen Verwirrung, Angst, Schmerz. Der Mund öffnete sich zu einem Schrei.
Wie ein Messer fuhr Jo der Schmerz in die Seite. Wimmernd hielt sie sich die Taille, während sie weiterrannte.
Unter ihren Füßen war jetzt Sand, vor ihr lag das Meer. Ihre Lungen brannten, sie keuchte. Sie stolperte, fiel auf Knie und Hände, rappelte sich mühsam wieder auf, rannte taumelnd weiter. Sie wollte weg, nur weg, weg von dem Schmerz und all den entsetzlichen Gedanken.
Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Eilige Schritte im Sand. Jo geriet ins Straucheln, fiel beinahe wieder, fing sich in letzter Sekunde, ballte die Fäuste, bereit zum Kampf.
Als sie herumschoß, sah sie Kirby, im Bademantel mit klatschnassem Haar, frisch aus der Dusche.
»Jo, was ist los? Ich hab’ dich von meiner Veranda aus gesehen …«
»Faß mich nicht an!«
»Okay, okay.« Kirby senkte ihre Stimme. »Warum kommst du nicht einfach mit mir. Du bist verletzt,
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