Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
deine Hände bluten.«
»Ich …« Verwirrt blickte Jo an sich hinunter, sah ihre zerschundenen Handflächen, von denen Blut hinabtropfte. »Ich bin gefallen.«
»Ich weiß. Ich hab’s gesehen. Komm mit, ich mach’ die Wunde sauber.«
»Nicht nötig, ist schon gut.« Sie spürte ihre Hände nicht einmal. Doch dann begannen ihre Knie zu zittern, ihr Kopf drehte sich. »Er hat meine Mutter umgebracht. Kirby, er hat meine Mutter ermordet. Sie ist tot.«
Vorsichtig näherte sich Kirby ihr, bis sie behutsam den Arm um Jos Schultern legen konnte. »Komm mit mir.« Ohne Widerstand ließ sich Jo von ihr zum Haus führen. Als Kirby sich noch einmal umdrehte, sah sie Nathan im Schatten der Bäume stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke im Mondlicht. Dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.
»Mir ist schlecht«, murmelte Jo. Langsam spürte sie ihren Körper wieder. Ein Prickeln wie von tausend Nadelstichen durchlief sie. Ihr Magen brannte.
»Es ist alles gut. Du brauchst Ruhe. Stütz dich auf mich, wir sind gleich da.«
»Er hat sie umgebracht. Nathan hat alles gewußt. Er hat es mir erzählt.« Kirby schleppte Jo die wenigen Stufen zu ihrem Cottage hinauf. »Meine Mutter ist tot.«
Schweigend half Kirby Jo ins Bett und breitete eine leichte Wolldecke über ihr aus. Inzwischen zitterte Jo am ganzen Körper. »Ganz langsam atmen«, befahl ihr Kirby. »Konzentrier
dich auf jeden Atemzug. Ich hole etwas, das dir guttun wird, bin gleich wieder da.«
»Ich brauche nichts.« Eine neue Welle von Panik erfaßte Jo. Sie umklammerte Kirbys Hand. »Kein Beruhigungsmittel. Ich schaffe es ohne Medikamente. Ich kann es, ich muß.«
»Natürlich kannst du es.« Kirby ließ sich auf der Bettkante nieder und fühlte Jos Puls. »Willst du es mir erzählen?«
»Ich muß mit jemandem darüber sprechen. Und meiner Familie kann ich es nicht erzählen, noch nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht mal, was ich fühlen soll.«
Jos Puls verlangsamte sich wieder, und ihre Pupillen nahmen wieder die normale Größe an. »Was hat Nathan dir erzählt, Jo?«
Jo starrte an die Decke. »Er hat mir erzählt, daß sein Vater meine Mutter umgebracht hat.«
»Oh, mein Gott.« Entsetzt führte Kirby Jos Hand an ihre Wange. »Wie konnte das passieren?«
»Ich weiß es nicht. Ich konnte nicht länger zuhören. Ich wollte es nicht mehr hören. Er hat gesagt, sein Vater hätte sie ermordet. Er hätte Tagebuch geführt. Nathan hat es gefunden und ist hierher zurückgekehrt. Ich habe mit ihm geschlafen.« Tränen rollten ihr übers Gesicht. »Ich habe mit dem Sohn des Mörders meiner Mutter geschlafen.«
Kirby wußte, daß jetzt Ruhe nötig war. Ruhe und kühle Logik. Ein falsches Wort, und Jo konnte wieder zusammenbrechen. »Jo, du hast mit Nathan geschlafen. Weil er dir etwas bedeutet und du ihm.«
»Er hat es gewußt. Er ist zurückgekommen, obwohl er wußte, was sein Vater getan hat.«
»Und das muß ihm schrecklich schwer gefallen sein.«
»Woher willst du das wissen?« Wütend stützte sich Jo auf die Ellbogen. »Wieso sollte es ihm schwer gefallen sein?«
»Es war mutig von ihm, Jo«, fuhr Kirby leise fort. »Jo, wie alt war er, als deine Mutter starb?«
»Welchen Unterschied macht das schon?«
»Neun oder zehn. Er war ein Kind. Willst du einem Kind die Schuld geben?«
»Nein. Aber jetzt ist er kein Kind mehr, und sein Vater …«
»Genau. Nathans Vater. Nicht Nathan.«
Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle. »Er hat sie mir weggenommen.«
»Ich weiß. Es tut mir so leid.« Kirby nahm Jo in die Arme. »Es tut mir so schrecklich leid.«
Als Jo schluchzend in ihren Armen lag, wußte Kirby, daß dieser Sturm erst der Anfang war.
Eine Stunde später war Jo wieder in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie nippte an dem heißen, süßen Tee, den Kirby ihr gemacht hatte. Die Trauer hatte die Panik weggespült.
»Ich wußte, daß sie tot ist. Ein Teil von mir hat es immer gewußt, seit es passiert ist. Ich habe von ihr geträumt. Als ich älter wurde, habe ich die Träume verdrängt, aber sie sind immer wiedergekommen. Immer öfter und immer stärker.«
»Du hast sie geliebt. Und wenn es noch so schrecklich ist: Nun weißt du, daß sie dich nicht verlassen hat.«
»Aber das tröstet mich nicht. Ich wollte Nathan weh tun. Auf jede nur mögliche Weise. Und ich habe es getan.«
»Und das findest du nicht normal? Also bitte, Jo.«
»Ich wäre beinahe wieder
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