Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
der sich ganz in der Nähe um die schmiedeeisernen Spaliere rankte – eine weitere lebendige Erinnerung an ihre Kindheit. »Ich bin nicht gekommen, um mich mit irgend jemandem zu streiten.«
»Ach, ist ja ganz was Neues.«
Brians Worte ließen ein Lächeln über ihre Lippen huschen. »Vielleicht bin ich ja reifer geworden.«
»Es geschehen doch immer noch Zeichen und Wunder. Iß jetzt deinen Krautsalat.«
Mit einem leisen Lachen nahm Jo ihre Gabel und stocherte in dem Krautsalat herum. »Erzähl mir, was es hier Neues gibt, Bri, und was sich nicht verändert hat.«
»Mal überlegen. Giff Verdon hat ein weiteres Zimmer an Verdon Cottage angebaut.«
»Moment mal.« Jo runzelte die Stirn. »Der kleine Giff, der magere Junge, der immer hinter Lex her war?«
»Genau der. Ein bißchen kräftiger ist er allerdings geworden, und ziemlich geschickt mit Hammer und Säge. Er repariert einfach alles. Aber hinter Lexy ist er immer noch her.«
Jo prustete und schaufelte, ohne es zu bemerken, den Krautsalat in sich hinein. »Sie würde ihn doch bei lebendigem Leib verspeisen.«
Brian zuckte die Achseln. »Vielleicht, aber ich glaube, er ist ein zäherer Brocken, als sie denkt. Und eine der Sanders-Töchter, Rachel, hat sich mit einem Collegejungen aus Atlanta verlobt. Im September zieht sie rüber aufs Festland.«
»Rachel Sanders.« Jo versuchte, sich zu erinnern. »War das die mit dem Lispeln oder die mit dem Kichern?«
»Die mit dem Kichern. Die Ohren konnten einem davon abfallen.« Brian registrierte zufrieden, daß Jo mit Appetit aß,
und lehnte sich entspannt zurück. »Vor mehr als einem Jahr ist die alte Mrs. Fitzsimmons gestorben.«
»Die alte Mrs. Fitzsimmons«, murmelte Jo. »Sie hat immer Austern auf ihrer Veranda geöffnet. Ich durfte sie oft fotografieren. Als ich noch klein war und gerade erst fotografieren gelernt habe. Ich muß ihr wirklich auf die Nerven gegangen sein, aber sie hat sich nichts anmerken lassen, saß ganz ruhig in ihrem Schaukelstuhl und hat mich üben lassen.«
Jetzt lehnte sich Jo zurück und ließ sich in den Rhythmus der Schaukel fallen, der so langsam und monoton war wie der der ganzen Insel. »Ich hoffe, es ging schnell und ohne Schmerzen.«
»Sie ist im Schlaf gestorben, im gesegneten Alter von sechsundneunzig Jahren. Etwas Besseres kann man sich nicht wünschen.«
»Nein.« Jo schloß die Augen, das Essen war vergessen. »Was ist aus ihrem Cottage geworden?«
»Vererbt. Damals, im Jahr 1923, haben die Pendletons den Fitzsimmons einen Großteil des Landes abgekauft, aber das Haus und das Land, auf dem es steht, gehörten ihr nach wie vor. Ihre Enkelin hat es bekommen.« Brian öffnete nochmals die Thermoskanne und nahm diesmal einen ordentlichen Schluck. »Eine Ärztin. Sie hat hier eine Praxis eröffnet.«
»Wie? Es gibt jetzt einen Arzt auf Desire?« Jo öffnete die Augen und hob die Brauen. »Gut, gut. Richtig zivilisiert. Gehen die Leute denn auch zu ihr?«
»Scheint so, zwar etwas zögernd, aber immerhin. Sie gibt nicht so schnell auf.«
»Sie muß nach mindestens zehn Jahren die erste neue Einwohnerin hier sein.«
»So ungefähr.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand …« Jo brach ab, als es ihr plötzlich wieder einfiel. »Moment. Hieß sie nicht Kirby? Kirby Fitzsimmons? Als wir noch Kinder waren, hat sie doch immer die Sommerferien hier verbracht!«
»Offenbar hat’s ihr hier so gut gefallen, daß sie gerne wiedergekommen ist.«
»Ich werd’ verrückt. Kirby Fitzsimmons. Und dazu noch als Ärztin.« Vergnügen machte sich in ihr breit, ein fast vergessenes
Gefühl, das sie beinahe nicht wiedererkannte. »Wir sind zusammen durch die Gegend gezogen. Ich kann mich noch gut an den Sommer erinnern, als Mr. David auf die Insel kam, um Fotos zu machen. Seine ganze Familie hat er mitgebracht.«
Sie genoß die Erinnerung an ihre kleine Freundin mit der schnellen Stimme, die unverkennbar nach den Nordstaaten klang, an die Abenteuer, die sie sich gemeinsam ausgedacht oder erlebt hatten.
»Du bist mit seinen Söhnen abgezogen, ohne mich eines Blickes zu würdigen«, fuhr Jo fort. »Wenn ich nicht gerade Mr. David so lange genervt habe, bis ich mit seiner Kamera ein paar Bilder machen durfte, habe ich mit Kirby jede Menge Unsinn angestellt. Mein Gott, die zwanzig Jahre kommen mir wie ein Tag vor. Das war der Sommer, in dem …«
Brian nickte, dann beendete er den Satz. »Der Sommer, in dem Mama fortging.«
»Es ist alles ganz verschwommen«, murmelte
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