Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
sarkastisch abgekanzelt. Sie hatte Jo nie zurückweichen, nie schwanken sehen. »Was ist los mit dir?«
»Ich sag’s dir, wenn ich’s selbst weiß.« Jo schüttelte die Hand ab, die sie aufhielt. »Du läßt mich in Ruhe, und ich laß dich in Ruhe, okay?«
Sie drehte sich um, lief mit schnellem Schritt den Weg entlang und verschwand in Richtung Meer. Der Dünenlandschaft mit ihren glänzenden Gräsern schenkte sie kaum einen Blick und schaute auch nicht auf, um den Flug der heiser schreienden Möwe zu verfolgen. Sie mußte nachdenken. Eine oder zwei Stunden in Ruhe ihren Gedanken nachhängen. Dann wußte sie, was zu tun war, wie sie es ihnen sagen würde. Wenn sie es ihnen überhaupt sagte.
Konnte sie ihnen von ihrem Zusammenbruch erzählen? Konnte sie überhaupt jemandem erzählen, daß sie zwei Wochen im Krankenhaus verbracht hatte, weil ihr die Nerven durchgegangen waren und irgend etwas in ihrem Kopf ausgesetzt hatte? Wie würden sie reagieren – mitfühlend, gleichgültig oder ablehnend?
Und was würde es bringen?
Wie sollte sie ihnen von den Fotos erzählen? Ganz gleich, welche Kämpfe sie mit ihnen ausgetragen hatte – es war ihre Familie. Wie sollte sie sie damit konfrontieren? Durfte sie alte Wunden aufreißen und die Vergangenheit wieder heraufbeschwören? Und wenn jemand das Foto sehen wollte, mußte sie sagen, daß es verschwunden war.
So wie Annabelle.
Vielleicht hatte es auch niemals existiert.
Sie würden sie für verrückt halten. Arme Jo Ellen, total durchgedreht.
Konnte sie ihnen erzählen, daß sie tagelang ihre Wohnung nicht verlassen, am ganzen Körper gezittert, alle Türen abgeschlossen hatte, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war? Daß sie sich dabei ertappt hatte, wie sie kopflos, völlig hektisch nach dem Foto gesucht hatte, das bewies, daß sie nicht richtig verstört war?
Und doch hatte sie das Foto ganz deutlich vor Augen. Die Textur, die Nuancen, die Komposition. Auf dem Foto war ihre Mutter jung gewesen. Und hatte Jo sie nicht so in Erinnerung – jung ? Das lange, wallende Haar, die weiche Haut? Wenn sie das Opfer von Halluzinationen gewesen wäre, hätte sie ihre Mutter dann nicht genau in diesem Alter vor sich gesehen?
Ungefähr in meinem Alter, dachte Jo. Das war bestimmt ein weiterer Grund für all die Träume, die Ängste, die Panik. War Annabelle so rastlos, so nervös wie ihre Tochter gewesen? Hatte es überhaupt einen Liebhaber gegeben? Man hatte es gemunkelt, nicht einmal einem Kind waren diese Gerüchte verborgen geblieben. Aber es gab keinen Beweis dafür, kein Indiz für ihre Untreue unmittelbar vor dem Verschwinden. Aber danach kochte die Gerüchteküche, die Leute zerrissen sich das Maul.
Andererseits wäre Annabelle dann diskret und überlegt vorgegangen. Sie hatte sich auch nicht anmerken lassen, daß sie weggehen wollte, und dennoch war sie verschwunden.
Hatte es Daddy wirklich nicht gewußt? fragte sich Jo. Ein Mann mußte doch merken, wenn seine Frau ruhelos und unzufrieden und todunglücklich war. Jo wußte, daß sie sich über die Zukunft der Insel gestritten hatten. War das der Grund gewesen? War Annabelle deswegen so unglücklich gewesen, daß sie ihrem Zuhause, ihrem Mann, ihren Kindern den Rücken gekehrt hatte? Hatte er es nur nicht gemerkt? Oder war er etwa schon damals blind für die Gefühle der Menschen in seiner Umgebung gewesen?
Sie konnte sich nicht erinnern, ob er jemals anders gewesen war. Aber ganz sicher war damals im Haus gelacht worden. Die Echos hallten noch durch ihren Kopf. Momentaufnahmen
von ihren Eltern, wie sie sich in der Küche umarmten, wie ihre Mutter lachte, wie sie Hand in Hand mit ihrem Vater am Strand spazierenging.
Es waren undeutliche Bilder, sie waren mit der Zeit so verschwommen, als hätte man sie schlecht entwickelt, aber sie waren da. Und sie waren echt. Wenn es ihr gelungen war, so viele Erinnerungen an ihre Mutter aus dem Gedächtnis zu verdrängen, dann sollte es ihr auch gelingen, sie wieder zurückzuholen. Und vielleicht würde sie dann anfangen zu begreifen.
Das Knirschen von Schritten im Sand ließ sie abrupt aufblicken. Die Sonne stand hinter ihm, ließ ihn im Schatten stehen. Das Schild seiner Mütze bedeckte seine Augen. Sein Gang war gelöst und sicher.
Ein anderes langvergessenes Bild schoß ihr durch den Sinn. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen mit wehendem Haar lachend und rufend den Pfad hinunterrennen. Und dann machte sie einen großen Satz. Er hatte seine Arme weit
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