Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
ausgebreitet, um sie aufzufangen, hoch in die Luft zu werfen und dann fest an sich zu drücken.
Mit einem Zwinkern vertrieb Jo das Bild und auch die Tränen, die mit der Erinnerung gekommen waren. Er lächelte nicht, und sie wußte, daß er, wie sehr sie sich auch dagegen sträubte, Annabelle in ihr sah.
Sie hob das Kinn und schaute ihm in die Augen. »Hallo, Daddy.«
»Jo Ellen.« Einen Schritt von ihr entfernt blieb er stehen und musterte sie. Er erkannte, daß Kate recht hatte. Das Mädchen sah blaß, krank und angespannt aus. Da er nicht wußte, wie er sie berühren sollte, und außerdem nicht glaubte, daß ihr eine Berührung angenehm gewesen wäre, vergrub er die Hände in den Hosentaschen. »Kate hat mir gesagt, daß du hier bist.«
»Ich bin mit der Morgenfähre gekommen«, sagte sie, obwohl sie wußte, daß diese Erklärung überflüssig war.
Einen langen Augenblick lang standen sie sich unbeholfener als zwei Fremde gegenüber. Sam trat von einem Bein aufs andere. »Probleme?«
»Ich mach’ nur eine Pause.«
»Du siehst krank aus.«
»Hab’ zuviel gearbeitet.«
Stirnrunzelnd blickte er auf die Kamera, die an einem Gurt um ihren Hals baumelte. »Sieht nicht so aus, als würdest du eine Pause machen.«
Abwesend legte sie die Hand um die Kamera. »Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.«
»Stimmt.« Er atmete tief aus. »Heute liegt ein wunderbares Licht auf dem Wasser, und die Wellen gehen recht hoch. Ist bestimmt ein schönes Foto.«
»Ich werd’ mal schauen. Danke.«
»Setz das nächste Mal einen Hut auf. Du holst dir sonst einen Sonnenbrand.«
»Ja, du hast recht. Ich werde daran denken.«
Ihm fiel nichts mehr ein, also nickte er ihr zu und setzte sich wieder in Bewegung. »Nimm dich vor der Sonne in acht«, bemerkte er nochmals, als er an ihr vorbeiging.
»Ich paß schon auf.« Sie wandte sich schnell ab und ging nun blind weiter, denn sie hatte gerade den Duft der Insel an ihm wahrgenommen, ihren reichen, dunklen Duft, und er brach ihr das Herz.
Viele Meilen entfernt ließ er unter dem roten Glühen der Dunkelkammerlampe das Papier mit der Emulsionsseite nach oben in die mit Entwicklerflüssigkeit gefüllte Schale gleiten. Es machte ihm Spaß, den viele Jahre zurückliegenden Augenblick wiederzubeleben, zu beobachten, wie er langsam auf dem Papier auftauchte, Schatten für Schatten, Linie für Linie.
Er hatte diesen Schritt so gut wie vollendet und wollte nun noch das ganze Vergnügen auskosten, bevor er aufbrach.
Er hatte sie zurück nach Sanctuary getrieben. Bei diesem Gedanken gluckste er vor Lachen. Es hätte gar nicht besser laufen können. Sie war jetzt genau da, wo er sie haben wollte. Er hätte sie auch schon vorher bekommen können, mindestens ein halbes Dutzend Male.
Aber es mußte perfekt sein. Er wußte um die Schönheit der Perfektion und die Befriedigung, die es bereitete, sorgfältig darauf hinzuarbeiten.
Nicht Annabelle, sondern Annabelles Tochter. Ein perfekter Kreis schloß sich. Sie würde sein Triumph sein, sein Meisterstück.
Sie erobern, nehmen und töten.
Und jeder Schritt sollte auf Film gebannt werden. Oh, wie sehr Jo das gefallen würde. Er konnte es kaum erwarten, ihr das alles zu erklären, ihr, dem einzigen Menschen, der seinen Ehrgeiz und seine Kunst begreifen würde.
Ihre Arbeiten fesselten ihn, und die Tatsache, daß er sie verstand, hatte ihn schon mit ihr vertraut werden lassen. Und sie würden sich noch näher kommen.
Lächelnd nahm er den Abzug aus der Entwicklerflüssigkeit und schüttelte ihn kurz ab, bevor er ihn in den Fixierer tauchte. Sorgfältig prüfte er die Temperatur der Flüssigkeit, wartete geduldig, bis die Zeitschaltuhr klingelte und er das weiße Licht anschalten konnte, um den Abzug genau zu betrachten.
Schön, einfach wunderschön. Herrliche Komposition. Effektvolle Beleuchtung – ein perfekter Schimmer über ihrem Haar, die Rundungen des Körpers und ihr Teint durch die richtigen Schatten betont. Und das Motiv, dachte er. Perfekt.
Als der Abzug endgültig fixiert war, nahm er ihn aus seinem Bad und spülte ihn unter fließendem Wasser ab. Jetzt konnte er von dem träumen, was kommen würde.
Er war ihr näher als je zuvor. Er war mit ihr durch die Fotografien verbunden, die ihre beiden Leben widerspiegelten. Er konnte es kaum erwarten, ihr das nächste zu schicken. Aber er mußte den Zeitpunkt sorgfältig auswählen.
Neben ihm lag aufgeschlagen ein zerlesenes Tagebuch; die fein säuberlich
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