Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Anlegestelle nahm und das Haus schließlich nicht mehr zu sehen war.
Nathan wandte sich von der Reling ab und ging zu seinem Jeep zurück. Nachdem er eingestiegen und nur noch in Gesellschaft der dröhnenden Schiffsmotoren war, fragte er sich, ob er wohl verrückt war, hierher zurückzukehren und die Vergangenheit zu erforschen und in gewisser Weise zu wiederholen.
In New York hatte er alles, was ihm etwas bedeutete, in seinen Jeep gepackt – es war erstaunlich wenig gewesen. Aber er
hatte nie das Bedürfnis verspürt, viele Dinge besitzen zu müssen. Das hatte ihm auch die Scheidung vor zwei Jahren erleichtert. Maureen war die Sammlerin gewesen, und es hatte ihnen beiden viel Zeit und Nerven gespart, daß er ihr beim Auflösen ihrer gemeinsamen Wohnung an der West Side freie Hand ließ.
Und sie hatte ihn beim Wort genommen: Sehr viel mehr als seine Kleidung und eine Matratze war ihm nicht geblieben.
Dieses Kapitel seines Lebens war jedenfalls abgeschlossen, und in den vergangenen zwei Jahren hatte er sich ausschließlich seiner Arbeit gewidmet. Gebäude entwerfen war sein Beruf und seine Leidenschaft, und New York hatte ihm nur als Ausgangsbasis für seine Reisen und Studienaufenthalte gedient. Er hatte sich die Zeit gegönnt, andere Gebäude zu studieren, ihre Kunst zu erforschen – von den berühmten Kathedralen Italiens und Frankreichs bis zu den rationellen Wüstenhäusern im Südwesten der USA.
Dann hatte er seine Eltern verloren, ganz plötzlich und unwiderruflich. Und er hatte sich selbst verloren. Er fragte sich, warum er auf Desire die Bruchstücke wiederzufinden hoffte.
Aber er war fest entschlossen, für mindestens ein halbes Jahr zu bleiben. Nathan hatte es als gutes Omen betrachtet, dasselbe Cottage buchen zu können, in dem er und seine Familie jenen Sommer verbracht hatten. Er wußte, daß er den Echos ihrer Stimmen nachspüren und sie mit den Ohren eines Mannes hören würde. Er würde ihre Geister mit den Augen eines Mannes sehen.
Und er kam mit den Absichten eines Mannes zurück nach Desire.
Würden sie sich an ihn erinnern? Annabelles Kinder?
Bald werde ich es wissen, dachte er, als die Fähre an der Ufermauer anlegte.
Er wartete, bis er an der Reihe war, und beobachtete, wie die Holzkeile vor den Rädern des Pick-ups vor ihm entfernt wurden. Eine fünfköpfige Familie, und aus der Ausrüstung auf der Ladefläche schloß er, daß sie ihre Ferien auf dem Campingplatz der Insel verbringen würden. Nathan schüttelte
den Kopf. Er fragte sich, wie man freiwillig in einem Zelt auf dem harten Boden schlafen und das dann auch noch Urlaub nennen konnte.
Das Licht trübte sich, als sich plötzlich Wolken vor die Sonne schoben. Mit gerunzelter Stirn stellte er fest, daß sie rasch von Osten herangetrieben kamen, und er erinnerte sich, daß es auf der Insel von einem Moment auf den nächsten zu regnen beginnen konnte. Damals hatte es drei endlose Tage lang sintflutartig geschüttet. Und schon am zweiten Tag hatten sich Kyle und er hoffnungslos in der Wolle gehabt.
Langsam fuhr er von der Fähre auf die holperige, schlaglochübersäte Straße, die weg von der Anlegestelle führte. Durch sein heruntergekurbeltes Wagenfenster hörte er die fröhliche Rock’n’Roll-Musik aus dem Autoradio des Pick-ups plärren. Die Camper-Familie genoß ganz offensichtlich schon jetzt ihren Urlaub, ganz gleich, ob es regnete oder die Sonne schien. Er war entschlossen, ihrem Vorbild zu folgen und den Vormittag in vollen Zügen zu genießen.
Natürlich würde er mit Sanctuary konfrontiert, aber er wollte sich dem Haus mit den Augen eines Architekten nähern. Er erinnerte sich, daß es ein wunderbares Beispiel des amerikanischen Kolonialstils war – breite Veranden, imposante Säulen, hohe, schmale Fenster. Selbst als Kind war er schon interessiert genug gewesen, um einige der architektonischen Details zu registrieren.
Da gab es ein Türmchen mit einem schmalen, rundherum verlaufenden Austritt. Und vorspringende Balkone mit verschnörkelten Eisengittern. Die Kamine waren aus zartgefärbten Steinen vom Festland gemauert und das Haus selbst aus Zypressen und Eichen von der Insel gezimmert.
Da gab es ein Räucherhäuschen, das damals noch in Betrieb gewesen war, und längst verfallene Sklavenhütten, wo er und Kyle in einer dunklen Ecke eine zusammengerollte Klapperschlange aufgestöbert hatten.
Im Wald gab es Wild und in den Sümpfen Alligatoren. In der Luft lag das Geflüster von Piraten und Geistern. Es war
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