Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Tag für Tag. Und um zu entscheiden, was mit den Hathaways geschehen sollte.
Er nahm einen Schluck Kaffee und verzog bei seinem schlechten, bitteren Geschmack das Gesicht. Er hatte festgestellt, daß im Leben einige Dinge schlecht und bitter waren, also trank er weiter.
Jo Ellen Hathaway. Er hatte sie als mageres Mädchen mit spitzen Ellenbogen, zerzaustem Pferdeschwanz und ungestümem Temperament in Erinnerung. Mit zehn hatte er noch nicht viel mit Mädchen anfangen können, also hatte er ihr nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie war einfach eine von Brians kleinen Schwestern gewesen.
Das war sie immer noch, dachte Nathan. Und sie war immer noch mager. Auch ihr Temperament war offenbar unverändert. Nur der lange Pferdeschwanz war verschwunden. Der kürzere Stufenschnitt paßte besser zu ihrer Persönlichkeit, zu ihrem Gesicht. Zu ihrer Lässigkeit.
Er fragte sich, warum sie so blaß und müde aussah. Sie schien nicht der Typ zu sein, der sich wegen einer gescheiterten Liebesaffäre oder einer beendeten Beziehung vor Gram verzehrte. Aber irgend etwas quälte sie. Ihre Augen waren voller Sorgen und Geheimnisse.
Und das war das Problem. Er hatte eine Schwäche für Frauen mit traurigen Augen.
Er beschloß, sich zurückzuhalten. Wenn er versuchte herauszufinden, was hinter diesen großen, traurigen Veilchenaugen vorging, konnte dies seiner eigentlichen Absicht zuwiderlaufen. Er brauchte Zeit und mußte objektiv bleiben, bevor er den nächsten Schritt unternahm.
Er trank noch ein paar Schlucke Kaffee und beschloß dann, sich ordentlich anzuziehen und auf einen Sprung hinüber nach Sanctuary zu gehen, um sich dort ein Frühstück mit einem anständigen Kaffee zu gönnen. Danach wollte er gleich wieder zurückkommen, um zu beobachten und zu planen. Er brauchte Zeit, um noch mehr Geister heraufzubeschwören.
Aber im Augenblick wollte er nur hier stehen, durch die feine Gaze blicken, die feuchte Luft spüren, zuschauen, wie die Sonne langsam den schimmernden Nebel aufsaugte, der dicht über dem Boden lag und wie ein Elfenflügel über dem Fluß schwebte.
Wer auch immer diesen Platz für das Cottage ausgesucht hat, es war eine gute Wahl, dachte er. Der Ort bot Einsamkeit, Abgeschiedenheit und einen herrlichen Blick. Die Bauweise selbst war einfach und funktional. Ein wetterfester, auf Stelzen
errichteter Kasten aus Zedernholz mit einer großzügigen, überdachten Veranda auf der Westseite und einem nicht überdachten, kleinen Freisitz auf der Ostseite. Im Inneren lag das nach oben hin spitz zulaufende Dachgebälk frei, was den Raum großzügig und offen erscheinen ließ. Auf jeder Seite lagen zwei Schlafräume und ein Bad.
Er und Kyle hatten jeder sein eigenes Zimmer gehabt. Als Älterer hatte er das größere Zimmer beansprucht. In dem breiten Doppelbett hatte er sich sehr erwachsen und überlegen gefühlt. Für seine Tür hatte er ein Schild geschrieben: Vor dem Eintreten Bitte Anklopfen.
Es hatte ihm gefallen, lange aufzubleiben und zu lesen, seinen Gedanken nachzuhängen, den gedämpften Stimmen seiner Eltern oder dem Brummen des Fernsehers zu lauschen. Er mochte es, wenn er sie über eine Sendung lachen hörte.
Das schnelle Glucksen seiner Mutter, das tiefe Lachen seines Vaters. Er hatte diese Geräusche während seiner Kindheit sehr oft gehört. Und es machte ihn traurig, daß er sie nie wieder hören würde.
Eine Bewegung stach ihm ins Auge. Nathan drehte den Kopf, und dort, wo er ein Reh erwartet hatte, sah er einen Mann am Flußufer entlanghuschen. Er war groß und schlaksig, sein Haar so dunkel wie Ruß.
Seine Kehle war trocken geworden, und Nathan zwang sich, den Becher zu heben und noch einen Schluck Kaffee zu trinken. Er beobachtete, wie der Mann näher kam und die stärker werdende Sonne auf sein Gesicht fiel.
Es war nicht Sam Hathaway, stellte Nathan fest, während sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breitmachte, es war Brian. Zwanzig Jahre hatten sie beide zu Männern gemacht.
Brian blickte auf, zwinkerte gegen die Sonne und fixierte die Gestalt hinter der gazebespannten Verandatür. Er hatte vergessen, daß das Cottage jetzt bewohnt war, und er nahm sich vor, künftig auf der anderen Flußseite entlangzuwandern. Nun mußte er wohl ein wenig Konversation machen.
Er hob grüßend die Hand. »Morgen. Wollte Sie nicht stören.«
»Haben Sie auch nicht. Ich habe nur schlechten Kaffee getrunken und mir den Fluß angeschaut.«
Klar, der Yankee, erinnerte sich Brian, der Halbjahresgast. Er
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