Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
leuchtete Kirby das dichte Unterholz ab, das einen kleinen Tümpel säumte.
»Ich glaube, ich könnte blind über die Insel laufen. So was vergißt man nicht. Ich habe alles hier mehr vermißt, als mir bewußt war, Kirby, aber trotzdem fühle ich mich noch wie eine Fremde.«
»Du bist ja erst zwei Wochen da. Nimm dir die Zeit, von der du vorhin gesprochen hast.«
»Ich versuch’s. Laß mich zuerst«, sagte Jo und betrat mit eingezogenem Kopf das kleine Plumpsklo. Kirby begann zu lachen, doch nachdem Jo die Tür hinter sich geschlossen hatte, erschauerte sie plötzlich. Sie fühlte sich vollkommen allein, vollkommen ausgeliefert. Die Geräusche aus den Sümpfen brachen über sie herein, das Rascheln, das Rufen, das Knistern. Langsam zogen Wolken vor dem Mond vorbei, und sie umschloß die Taschenlampe fest mit beiden Händen.
Kein Grund, in Panik zu geraten, beruhigte sie sich. Was sollte ihr schon auf dieser Insel passieren können? Aber als Jo aus dem Häuschen trat, atmete Kirby erleichtert auf.
»Du bist dran«, sagte Jo, während sie ihre Jeans zuknöpfte. »Nimm aber die Taschenlampe mit – ich wäre beinahe reingefallen. Da drinnen ist es so finster wie in einem Grab, und so fühlt sich’s auch an.«
»Wir hätten zu den richtigen Toiletten rübergehen sollen.«
»So lange hätte ich’s nicht mehr ausgehalten.«
»Wohl wahr. Du wartest auf mich, okay?«
Jo nickte und lehnte sich an die Brettertür. Als sie rechts neben sich Schritte hörte, machte sie vor Schreck einen Satz.
»Hallo…?« Die männliche Stimme hatte einen angenehmen Klang.
»Hallo. Wir überlassen Ihnen gleich das Feld.«
»Nicht nötig. Ich mache vor dem Schlafengehen nur noch einen kleinen Mondscheinspaziergang. Ich campe drüben auf Platz zehn.« Er kam einige Schritte näher, blieb aber im Schatten verborgen. »Wunderschöne Nacht. Wunderschönes Fleckchen. Ich habe nicht damit gerechnet, eine wunderschöne Frau zu treffen.«
»Die Insel hält eben immer eine Überraschung bereit.« Jo blinzelte ins Licht seiner Laterne. »Das macht ihren Reiz aus.«
»Ganz sicher. Und den genieße ich in vollen Zügen. Abenteuer auf Schritt und Tritt, finden Sie nicht? Immer die Vorfreude auf was Neues. Ich liebe die … Vorfreude.« Plötzlich fiel ihr auf, daß seine Stimme keineswegs angenehm klang. Sie war wie Sirup – zu süß, zu klebrig, zu zäh.
»Dann kommen Sie auf Desire ja voll auf Ihre Kosten.«
»Das kann man wohl sagen.«
Hätte sie jetzt die Taschenlampe gehabt, hätte sie auf ihre guten Manieren gepfiffen und ihm direkt ins Gesicht geleuchtet. Es ist die Stimme aus der Dunkelheit, sagte sie sich, die das Ganze so unheimlich und gefährlich erscheinen läßt. Als sie die Tür neben sich quietschen hörte, drehte sie sich schnell um und griff nach Kirbys Hand, noch bevor Kirby aus dem Häuschen getreten war.
»Wir haben Gesellschaft bekommen«, sagte Jo und bemerkte verärgert, daß ihre Stimme zu laut und zu fröhlich klang. »Scheint heute abend ein beliebter Platz zu sein. Nummer zehn hat gerade mal vorbeigeschaut.«
Aber als sie sich umdrehte und Kirbys Hand mit der Taschenlampe hob, war niemand mehr da. Hastig entriß sie Kirby die Lampe und ließ den Lichtkegel hektisch durchs Gebüsch gleiten.
»Er war hier. Da war jemand. Ich hab’s mir nicht eingebildet. Ganz bestimmt nicht.«
»Beruhige dich.« Kirby legte ihre Hand auf Jos Schulter und stellte fest, daß sie am ganzen Körper zitterte. »Ist ja schon gut. Wer war ’s denn?«
»Keine Ahnung. Er war plötzlich da. Ich hab’ mit ihm gesprochen. Hast du’s denn nicht gehört?«
»Nein, ich habe nichts gehört.«
»Er hat ganz leise geredet, fast geflüstert. Deshalb. Er wollte nicht, daß du ihn hörst. Aber er war hier.« Jos Finger umklammerten Kirbys, die Panik hatte sie jetzt vollends ergriffen. »Ich schwöre dir, daß er hier war, ganz nah.«
»Ich glaube dir, Jo, warum sollte ich daran zweifeln?«
»Weil er weg ist und …« Sie atmete tief durch und strich mit beiden Händen ihr Haar zurück. »Ach, ich weiß nicht. Es ist alles ein einziges Durcheinander. Es war so dunkel, und er hat mir einen Riesenschrecken eingejagt. Ich konnte nicht mal sein Gesicht sehen. Er muß sich rangeschlichen haben.«
»Kann passieren. Heute nachmittag hat mir jemand einen ähnlichen Streich gespielt. Auf dem Weg nach Sanctuary, mitten im Wald. Ich bin gerannt wie ein Hase.«
Jo lachte erleichtert auf und rieb sich die feuchten Handflächen an ihren Jeans
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