Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
gelodert.« Jo versuchte sich zu erinnern, ob sie Ginny vor ihrem Aufbruch noch gesehen hatte.
»Wenn die jungen Mädchen in ihren eigenen Betten schlafen würden, wie sich’s gehört«, brummte Sam, »wären sie morgens auch rechtzeitig bei der Arbeit.«
»Sam, du weißt genau, daß das nicht Ginnys Art ist. Sie ist so zuverlässig wie die Sonne.« Mit besorgter Miene warf Kate einen Blick auf die Uhr. »Vielleicht geht es ihr ja nicht gut.«
»Vielleicht hat sie einen Kater, meinst du wohl.«
»Soll schon mal vorkommen«, erwiderte Kate harsch. »Tatsache ist, daß wir einen Gästewechsel haben und ich hier nicht wegkann, selbst wenn ich wüßte, wie man ein Zelt aufbaut. Tut mir leid, Sam, aber diesmal mußt du ein bißchen deiner kostbaren Zeit opfern und dich selbst darum kümmern.«
Sam blickte sie erstaunt an. Es kam nicht oft vor, daß sie in so scharfem Ton mit ihm sprach. Aber es schien, als käme es in
letzter Zeit immer häufiger vor. Um des lieben Friedens willen zuckte er die Achseln. »Schon gut, ich fahr’ rüber.«
»Jo wird dich begleiten«, sagte Kate brüsk, worauf sich Vater und Tochter verblüfft anblickten. »Du könntest Hilfe brauchen.« Wenn sie die beiden dazu zwang, den Vormittag gemeinsam zu verbringen, würden sie vielleicht miteinander ins Gespräch kommen. »Jo, du kannst vom Campingplatz aus nach Ginny schauen. Vielleicht ist ihr Telefon ja nur ausgestöpselt, oder sie fühlt sich wirklich nicht gut. Ich bin jedenfalls erst beruhigt, wenn ich weiß, was mit ihr los ist.«
Jo nestelte an dem Gurt ihrer Kamera – ihre Pläne für den Vormittag konnte sie wohl begraben. »Klar, kein Problem.«
»Sag mir bitte Bescheid, wenn du sie aufgetrieben hast.« Entschlossen schob Kate Sam und Jo aus der Küche. »Um die Hausarbeit braucht ihr euch keine Gedanken zu machen. Lexy und ich kriegen das schon geregelt.«
Jo stieg auf den Beifahrersitz des alten Blazers ihres Vaters und schnallte sich an. Riecht nach ihm hier, stellte sie fest. Nach Meer und Sand und Wald. Der Motor sprang sofort an und lief rund. Er hat noch nie irgend etwas, das ihm gehört, vernachlässigt, dachte sie. Außer seinen Kindern.
Ärgerlich über sich selbst zog sie die Sonnenbrille aus der Brusttasche ihres Hemds und setzte sie auf. »War nett, das Lagerfeuer gestern abend«, begann sie.
»Muß noch nachschauen, ob der Junge den Strand wieder in Ordnung gebracht hat.«
Jo nahm an, daß von Giff die Rede war, und war im Gegensatz zu ihrem Vater überzeugt, daß er bestimmt nicht das kleinste Fetzchen Papier im Sand übersehen hatte. »Die Pension läuft ja gut. Es ist ziemlich viel los für die Jahreszeit.«
»Werbung«, sagte Sam knapp. »Kate kümmert sich drum.«
Jo kämpfte gegen einen tiefen Seufzer an. »Ich würde meinen, Mundpropaganda reicht aus. Und das Restaurant lockt dank Brians Kochkünsten doch immer genug Gäste an.«
Sam brummte nur kurz. Niemals würde er begreifen, was einen Mann an den Herd trieb. Nicht, daß er seine Töchter besser verstand. Die eine ging nach New York und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als damit berühmt zu werden,
sich in Fernsehspots die Haare zu waschen, und die andere zog durch die ganze Welt, um Fotos zu schießen. Es würde ihm ein ewiges Rätsel bleiben, wie er der Vater dieser Kinder sein konnte.
Aber schließlich war ja auch Annabelle beteiligt gewesen.
Resigniert gab Jo ihre Konversationsversuche auf. Sie kurbelte ihr Fenster runter, genoß den sanften Wind auf ihrer Haut, lauschte dem Surren der Reifen auf dem Asphalt.
»Halt.« Spontan packte sie Sams Arm. Nachdem er den Wagen zum Stehen gebracht hatte, sprang sie flink raus und ließ ihn mit unwillig gerunzelter Stirn hinter dem Steuer zurück.
Auf einem kleinen Erdhügel neben einer Pfütze sonnte sich eine Schildkröte, den Kopf steil in die Luft gerichtet, so daß sich das hübsche Muster ihres Halses im Wasser spiegelte. Sie nahm keinerlei Notiz von Jo, die sich langsam anschlich und ihre Kamera in Position brachte.
Dann raschelte es leise, und die Schildkröte zog blitzartig ihren Kopf ein. Mit angehaltenem Atem sah Jo im nächsten Augenblick einen Reiher aufsteigen; wie ein weißer Geist schnellte er vollkommen mühelos in die Luft, um wenig später mit ausgebreiteten Schwingen im Wind zu segeln. Er flog über die Kette kleiner Seen und winziger Inseln hinweg und verschwand schließlich hinter dem Wald.
»Ich hab’ mir früher immer versucht vorzustellen, wie es ist, sich so
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