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Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)

Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)

Titel: Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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leicht in die Luft zu erheben und mit ein paar Flügelschlägen wegzufliegen.«
    »Ich kann mich erinnern, daß du die Vögel immer am liebsten gemocht hast«, sagte Sam hinter ihr. »Ich wußte nicht, daß du auch ans Wegfliegen gedacht hast.«
    Jo lächelte leise. »Ich hab’s mir immer gewünscht. Mama hat mir die Geschichte von der Schwanenprinzessin erzählt, von dem schönen jungen Mädchen, das von einer Hexe in einen Schwan verwandelt worden ist. Ich fand die Vorstellung herrlich.«
    »Sie hat viele Geschichten gekannt.«
    »Ja.« Jo drehte sich um und blickte in das Gesicht ihres Vaters. Ob es ihm immer noch weh tut, an seine Frau zu denken, fragte sie sich. Würde es weniger schmerzen, wenn sie ihm
sagte, daß Annabelle wahrscheinlich tot war? »Ich wünschte, ich könnte mich an alle erinnern«, murmelte sie.
    Sie atmete tief durch. »Daddy, hat sie dich jemals wissen lassen, wohin sie gegangen ist – oder warum?«
    »Nein.« Der warme Ausdruck, der sein Gesicht überzogen hatte, während er mit Jo den Flug des Reihers beobachtete, verwandelte sich in eine eisige Maske. »Das brauchte sie nicht. Sie war frei, sie ist gegangen, weil sie es so wollte. Wir sollten jetzt besser weiterfahren und unsere Arbeit tun.«
    Er drehte sich um und ging zurück zum Wagen. Der Rest der Fahrt verlief schweigend.
     
    Jo hatte früher oft auf dem Campingplatz gearbeitet. Den Familienbetrieb kennenlernen, hatte Kate es genannt. Die Arbeit hatte sich im Lauf der Jahre nicht wesentlich verändert. Die große Karte, die im Empfangshäuschen an die Wand getackert war, zeigte die einzelnen Zeltplätze, die Wege und die sanitären Einrichtungen. Belegte Plätze wurden mit blauen Reißnägeln gekennzeichnet, reservierte mit roten und freie mit grünen. Die grün markierten Plätze mußten überprüft werden.
    Auch die Toiletten- und Duschhäuschen wurden zweimal täglich überprüft und gereinigt. Da es unwahrscheinlich war, daß Ginny das nach dem Lagerfeuer noch einmal getan hatte, übernahm Jo notgedrungen diese Arbeit.
    »Ich kümmere mich um die Duschen«, sagte sie zu Sam, der sich schon über den Papierkram der ungeduldig wartenden Abreisegäste hergemacht hatte. »Und dann geh’ ich rüber zu Ginnys Cottage und sehe nach, was mit ihr los ist.«
    »Geh zuerst rüber zu ihr«, entgegnete Sam, ohne aufzublicken. »Die Duschen sind schließlich ihr Job.«
    »Okay. Dauert sicher nicht länger als eine Stunde. Ich komme dann wieder hierher.«
    Sie schlug den Fußweg in Richtung Osten ein. Wenn ich ein Reiher wäre, dachte sie lächelnd, wäre ich mit ein paar Flügelschlägen drüben bei Ginny. Aber der schmale Pfad schlängelte sich fast einen Kilometer bergauf, bergab, am schlüpfrigen Teichufer entlang und durch mannshohes Schilf hindurch.
    Sie kam an einem kleinen Spitzzelt vorbei. Offensichtlich keine Frühaufsteher, bemerkte sie. Der Reißverschluß des Zelteingangs war fest verschlossen. Zwei Waschbären tapsten ihr über den Weg, musterten sie mit ihren klugen Augen und liefen dann weiter ihrem Frühstück entgegen.
    Ginnys Hütte aus Zedernholz war unter hohen Bäumen versteckt. Rechts und links neben der Tür standen zwei leuchtendrote Töpfe mit knallbunten Plastikblumen, daneben ein Flamingo-Pärchen aus verwittertem Kunststoff. Ginny erzählte jedem, daß sie Blumen und Tiere mochte – und zwar am liebsten aus Plastik.
    Jo klopfte, wartete einen Augenblick und trat dann ein. Der Hauptraum war nur ein paar Quadratmeter groß, eine schmale Theke trennte die Küchenzeile vom Wohnbereich. Aber auch der Platzmangel konnte nichts gegen Ginnys Sammelleidenschaft ausrichten. Jede noch so winzige Fläche war mit Schnickschnack vollgestellt – mit Andenken-Aschenbechern, Porzellanpuppen mit Rüschenkleidern und Kristallpudeln.
    An den rosa gestrichenen Wänden hingen kitschige Poster  – hauptsächlich Stilleben mit Blumen und Früchten. In einer Mischung aus Rührung und Amüsement entdeckte Jo zwischen den grellbunten Drucken eine ihrer eigenen Schwarzweißfotografien. Es war ein Schnappschuß aus ihrer Teenagerzeit, der Ginny schlummernd in einer Hängematte auf Sanctuary zeigte.
    Grinsend näherte sich Jo der Schlafzimmertür. »Ginny, falls du nicht allein bist, deckt euch zu. Ich komme.«
    Aber das Schlafzimmer war leer. Das Bett war ungemacht und genauso wie der Fußboden mit Kleidungsstücken übersät. Sieht aus, als hätte sich Ginny nicht so recht entscheiden können, was sie zum Lagerfeuer anziehen

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