Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
sollte, dachte Jo.
Sie warf noch einen Blick ins Bad, um sicherzugehen, daß die Hütte leer war. Die Plastikablage über dem winzigen Waschbecken war gerammelt voll mit Kosmetika. Das Waschbecken war noch mit einer Puderschicht bedeckt. Auf dem Badewannenrand standen drei Shampoo-Flaschen, eine davon noch aufgeschraubt. Den Spülkasten zierte eine gehäkelte
Puppe, die unter ihrem Rüschenrock eine Ersatzrolle Toilettenpapier versteckte.
Typisch Ginny.
»In wessen Bett du heute wohl aufwachst?« murmelte Jo seufzend und verließ die Hütte. Das Schrubben der Klo- und Duschhäuschen blieb ihr wohl nicht erspart.
Dort angekommen, zog Jo den Schlüsselbund aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und schloß den kleinen Putzraum auf, in dem sie fein säuberlich aufgereiht Reinigungsmittel und Badutensilien vorfand. Es war immer wieder verblüffend, festzustellen, wie diszipliniert Ginny bei ihrer Arbeit war, auch wenn der Rest ihres Lebens chaotisch und unvorhersehbar erschien.
Mit Schrubber, Eimer, Scheuertuch, Reinigungsmitteln und Gummihandschuhen bewaffnet, betrat Jo die Damenduschen. Eine Frau um die fünfzig putzte sich übers Waschbecken gebeugt die Zähne. Jo bedachte sie mit einem abwesenden Lächeln und füllte den Eimer mit Wasser.
Die Frau spülte sich den Mund aus und spuckte den Schaum ins Becken. »Wo ist Ginny heute?«
»Oh.« Jo blinzelte gegen die scharfen Dämpfe an, die aus der Reinigerflasche aufstiegen. »Ginny ist heute auf der Vermißtenliste.«
»Hat wohl zuviel gefeiert«, sagte die Frau mit freundlichem Lachen. »Das Lagerfeuer war toll. Mein Mann und ich haben es genossen – so sehr, daß wir heute fast nicht aus den Federn gekommen wären.«
»Dafür ist der Urlaub doch da. Zum Feiern und Ausschlafen.«
»Vom letzteren ist mein Mann leider schwer zu überzeugen.« Die Frau nahm eine Tube aus ihrem Necessaire, gab etwas Creme auf ihre Fingerspitzen und massierte sie ins Gesicht ein. »Dick hat auch im Urlaub seinen festen Stundenplan. Und jetzt sind wir schon fast eine Stunde zu spät mit unserer Wanderung.«
»Macht doch nichts, die Insel läuft Ihnen schon nicht weg.«
»Sagen Sie das mal Dick.« Sie lachte wieder und begrüßte dann eine jüngere Frau, die mit einem etwa dreijährigen Mädchen
an der Hand das Duschhäuschen betrat. »Guten Morgen, Meg. Und wie geht’s der hübschen Lisa heute?«
Das Mädchen kam munter plappernd angerannt.
Mit den fröhlichen Stimmen im Hintergrund machte sich Jo an die Arbeit. Die ältere Frau hieß Joan, und offensichtlich hatten sie und ihr Mann Dick den Zeltplatz neben Meg und ihrem Mann Mick. Anscheinend hatte sich zwischen ihnen in den vergangenen zwei Tagen die typische Urlaubsfreundschaft entwickelt. Sie machten aus, am Abend gemeinsam Fisch zu grillen, und dann verschwand Meg mit ihrer Tochter in einer der Duschkabinen.
Beim Aufwischen hörte Jo das Plätschern des Wassers und das vergnügte Quietschen des kleinen Mädchens. Das war es, was Ginny an ihrer Arbeit so mochte: kleine Fetzen aus den Leben anderer Menschen zu sammeln. Aber sie konnte auch daran teilnehmen, mitmachen. Die Leute erinnerten sich an sie. Auf ihren Urlaubsschnappschüssen und später in den Familienalben war oft genug auch Ginny zu sehen. Sie kannten ihren Namen, und wenn sie im nächsten Jahr wiederkamen, fragten sie immer nach Ginny.
Weil sie sich nicht versteckt, dachte Jo, während sie sich auf den Schrubber stützte. Ginny verschwand nicht einfach im Hintergrund. Sie war wie eine ihrer leuchtendbunten Plastikblumen. Offen und fröhlich.
Vielleicht sollte ich auch mal ein paar Schritte nach vorne machen, dachte Jo. Endlich raus aus dem Hintergrund. Nach vorn ins Rampenlicht.
Sie sammelte ihre Utensilien zusammen, verließ den Damenbereich und ging hinüber zur Tür zu den Herrenduschen. Dort klopfte sie dreimal kräftig an, wartete einige Augenblicke und klopfte nochmals.
Zögernd öffnete sie die Tür zuerst einen Spaltbreit, spähte in den Raum, stieß die Tür dann ganz auf und rief: »Es wird gleich geputzt. Ist hier jemand?«
Als sie vor Jahren Ginny einmal geholfen hatte, war Jo auf einen älteren, notdürftig in sein Handtuch gehüllten Mann getroffen, der sein Hörgerät im Zelt vergessen hatte. Und sie hatte keine Lust auf eine weitere Erfahrung dieser Art. Als sie
kein Geräusch hörte – kein laufendes Wasser, kein Rauschen der Spülung –, trat sie ein, wobei sie selbst so viel Lärm wie möglich machte.
Als allerletzte
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