Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
überprüft – sie war tatsächlich nicht auf der Fähre.«
»Okay.« Er strich mit seiner Hand ihren Arm auf und ab und versuchte nachzudenken. »Ein privates Boot. Hier gibt’s ’ne Menge davon – von Inselbewohnern oder Touristen.«
»Sie kann selbst ein Boot steuern, aber auf der Insel fehlt keins. Niemand hat sein Boot als vermißt gemeldet oder berichtet, daß sich Ginny eins ausgeliehen hat.«
»Vielleicht jemand, der einen Tagesausflug gemacht hat?«
»Ja, vielleicht.« Sie nickte, versuchte, diese Möglichkeit zu akzeptieren. »Das glauben inzwischen wohl die meisten. Sie hat einfach alles stehen- und liegenlassen und ist mit einem Typen durchgebrannt. Das hat sie schon mal gemacht, aber nie, wenn sie Dienst hatte, und nie, ohne ein Wort zu sagen.«
Er erinnerte sich, wie sie ihn angelächelt hatte. Hey, Süßer. »Sie hat gestern abend einige Tequila gekippt.«
»Ja, das hab’ ich auch schon gehört.« Sie wandte sich von ihm ab und schaute trotzig zu Boden. »Aber Ginny ist keine billige, betrunkene Schlampe.«
»Das hab’ ich weder gesagt noch gemeint.«
»Es ist so einfach zu sagen, es war ihr egal. Sie ist einfach gegangen, ohne ein Wort, ohne einen Gedanken an jemanden zu verschwenden.« Jo sprang auf, während die Worte aus ihr heraussprudelten. »Sie hat ihre Familie, ihr Zuhause und die Menschen, die sie liebten, verlassen, ohne daran zu denken, daß sie sich wahnsinnige Sorgen machen und verletzt sein würden.«
Ihre Augen funkelten vor Wut, und ihre Stimme überschlug sich. Es war ihr egal, daß sie jetzt von ihrer Mutter sprach, egal, daß ihr sein mitleidiger Blick verriet, daß er es wußte.
»Ich glaube es nicht.« Sie atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder entweichen. »Und ich habe es nie geglaubt.«
»Es tut mir so leid.« Er erhob sich und nahm sie in die Arme. Obwohl sie sich dagegen wehrte, hielt er sie fest. »Es tut mir so leid, Jo.«
»Ich will dein Mitleid nicht. Ich will gar nichts, weder von dir noch von sonst jemandem. Laß mich los.«
»Nein.« Zu viele haben sie schon gehen lassen, dachte Nathan. Er drückte sein Gesicht an ihr Haar und hielt sie fest.
Plötzlich gab sie ihren Widerstand auf und schlang die Arme fest um ihn. »Oh, Nathan, ich hab’ solche Angst. Es ist, als würde sich alles wiederholen. Und ich weiß nicht, warum.«
Über ihren Kopf hinweg starrte er auf den Garten. »Welchen Unterschied würde es machen? Würde es dir helfen, wenn du wüßtest, warum?«
»Wahrscheinlich nicht. Manchmal denke ich, es würde alles nur noch schlimmer machen. Für uns alle.« Sie drückte ihren Kopf an seinen Hals und war dankbar, daß er da war, daß er sie hielt. »Ich kann nicht mitansehen, wie in meinem Vater die Erinnerungen wieder hochkommen, und in Lexy und Brian. Wir sprechen nicht darüber, irgendwie bringt es keiner von uns fertig. Aber die Erinnerung ist da, sie arbeitet in uns, und ich glaube, sie hat sich wie ein Keil zwischen uns geschoben, uns voneinander weggetrieben.« Sie stieß einen langen Seufzer aus, aber sein Herzschlag dicht neben ihrem beruhigte sie. »Ich muß mehr an Mama als an Ginny denken, und ich hasse mich dafür.«
»Das darfst du nicht.« Seine Lippen berührten ihre Schläfe, ihre Wange, ihren Mund. »Das darfst du nicht«, wiederholte er und küßte sie leidenschaftlicher als beabsichtigt. Er neigte den Kopf in eine andere Richtung und küßte sie wieder. »Bleib bei mir, nur noch einen Augenblick«, flüsterte er, während sie ihre Arme hinabsinken ließ. »Halt mich fest, nur noch einen Moment.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Ich muß jetzt gehen.«
Er griff nach ihr, hielt ihre Finger fest. »Komm mit mir. Komm mit mir nach Hause. Vergiß es für eine Weile.«
In ihren Augen spiegelten sich tausend Gefühle wider. Sie nahmen sie in Besitz, ließen sie leuchtend blau erstrahlen. »Ich kann nicht.«
Sie trat zurück, drehte sich um, rannte die Stufen hoch und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Vierzehn
Sechsunddreißig Stunden nachdem Ginny nicht zur Arbeit erschienen war, betrat Brian müde das Wohnzimmer der Familie und streckte sich auf der alten Couch aus. Er war erschöpft und wußte nicht, was er noch tun sollte. Sie hatten die Insel nach allen Richtungen durchkämmt, hatten Dutzende von Telefonaten geführt. Schließlich war die Polizei verständigt worden.
Aber sie waren nicht besonders interessiert gewesen. Schließlich handelte es sich
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