Insel der Traumpfade Roman
sorgte – sie hatte keine Familie und Schulbildung, so wie du und ich.«
Alice sah die Wut in Jacks Augen, die sich jedoch zum Glück nicht länger gegen sie richtete. Allmählich begriff sie, was Nell zu der Frau gemacht hatte, die sie war, und ein Anflug von Mitleid dämmte ihren Zorn.
»Nell ist auf einem Sträflingsschiff hierhergekommen, genau wie ich, doch ihr wurde von den Wärtern und Seeleuten Gewalt angetan, man ließ sie hungern und legte sie im Schiffsrumpf in Ketten zu gewalttätigen Männern. Trotzdem hat sie ihren Lebenswillen behalten und alles überstanden. Sie hat eine viel längere Strafe abgeleistet als Billy und ich, und diese blühende Farm haben wir nicht zuletzt ihrem Kampfgeist zu verdanken.«
Alice wurde nachdenklich. »Tut mir leid«, murmelte sie.
»Das wirst du Nell sagen, nicht mir«, entgegnete er. »Sie hat es schließlich verdient.«
Alice war empört. Der Gedanke, Nell könne sich an ihrem Rückzieher weiden, war zu schrecklich. »Das kann ich nicht«, flüsterte sie.
Sein Blick war fest, sein Ausdruck unerschütterlich. »Du wirst es müssen«, sagte er gelassen, »sonst bringe ich dich wieder nach Sydney und setze dich auf das erste Schiff Richtung Heimat.«
Nell war so enttäuscht, dass sie langsamer als sonst durch das Haus ging und Billy und die Kinder versorgte. Dummerweise hatte sie angenommen, sie und Alice würden sich sofort anfreunden. Da habe ich mich gründlich geirrt, dachte sie und legte die Zwillinge ins Bett, bereit, ihnen ein Schlaflied zu singen. Alice hatte Vorstellungen, die weit über ihren gesellschaftlichen Stand hinausgingen, und Nell konnte nicht verstehen, warum Jack sie liebte.
Sie betrachtete die Zwillinge, deren Augenlider beim Einschlafen leicht zuckten, und wusste, dass sie gesegnet war. Amy schlief in dem anderen Kinderbett, und Billy rauchte auf der Veranda seine Pfeife. Ihr Leben war ganz anders verlaufen, als sie erwartethatte – und wenn Alice dachte, sie könnte hierherkommen und alles zerstören …
»Hol’s der Teufel!«, stöhnte sie, als sich ein plötzlicher Schmerz wie ein Gürtel um ihren gerundeten Leib legte und zudrückte. Diese Schwangerschaft war im Vergleich zu den früheren schwierig. Sie hatte von Anfang an unter Übelkeit, Kopfschmerzen und Ziehen im Unterleib gelitten – doch bei ihrem einzigen Besuch in der Krankenstation in Sydney Town wurde ihr versichert, es sei alles in Ordnung. Jetzt aber setzten die Wehen vorzeitig ein.
Sie lehnte sich an die Wand und verkniff sich ein Jammern – sie durfte die Kinder nicht wecken. Leise fluchend wartete sie, bis der Schmerz nachgelassen hatte, und wankte dann auf der Suche nach Billy aus dem Haus.
Er saß auf der Veranda in einem Sessel, zufrieden mit seiner Pfeife und der überwältigenden nächtlichen Stille im Outback. »Sieh nur, die Sterne, Nell«, sagte er. »Sie sind so klar und nah, es ist fast so, als könnte man sie berühren.«
»Scheiß auf die Sterne!« Sie keuchte, als sich ein weiterer Wehenschmerz ankündigte. »Das Kind kommt und hat es verdammt eilig.«
Billy sprang auf die Beine und führte sie ins Haus zurück. »Wann ist denn das losgegangen?«, fragte er entgeistert.
»Schon vor einer Weile«, japste sie. Die Schmerzen hatten begonnen, kurz nachdem Alice und Jack gegangen waren, doch sie war zu wütend gewesen, um ihnen Beachtung zu schenken. Sie bat Billy, Wasser und ein scharfes Messer bereitzustellen und ihr dann zu helfen, das Bett abzuziehen. Die Schmerzen waren inzwischen unbarmherzig und kamen in rascher Folge. Das Fruchtwasser ging ab, sie zog ihre durchnässten Kleider aus und versuchte, auf dem Bett eine bequeme Stellung einzunehmen.
»Soll ich Alice holen?« Billy stand am Fuße des Bettes.
»Nein«, brachte Nell mühsam hervor. »Ich habe es bisher allein geschafft, und ich komme auch jetzt ohne sie aus.« Sie bog den Rücken durch und packte das eiserne Bettgestell, als sie den Drang verspürte, zu pressen. »Geh und beschäftige dich, Billy«, fauchte sie, »du machst mich nervös.«
Sie hörte nicht, wie er hinausging, war sich nicht bewusst, dass er draußen auf und ab lief oder dass die Kinder wach wurden und mit piepsenden Stimmen nach ihr riefen: Ihre Aufmerksamkeit war auf das unerträgliche Ziehen in ihrem Leib gerichtet. In Schweiß gebadet quälte sie sich und presste. Woge um Woge aus Übelkeit und Angst vermischte sich mit höllischen Schmerzen, während sie sich abmühte, ihrem Kind das Leben zu schenken – doch es
Weitere Kostenlose Bücher