Insel der Verlorenen Roman
legte ihn aufs Bett und entkleidete ihn. Seine Schuhsohlen waren löchrig, denn er war an diesem Tag fast dreißig Meilen marschiert. Als Vetter James ihm allerdings eine Dosis Laudanum verabreichen wollte, stieß er das Glas zur Seite.
Nein, William Henry war nicht tot. Er wäre nie so nahe an den Fluss herangegangen, dass er hätte hineinfallen können. Richard hatte ihn doch immer wieder vor dem Fluss gewarnt. Richard wusste so gut wie Dick, wie die Vettern James und wie Mr Prichard, was zwischen dem Jungen und seinem Lehrer vorgefallen sein musste: Parfrey hatte William Henry Avancen gemacht, und William Henry war weggerannt. Aber doch nicht zum Fluss! Ein aufgeweckter Junge wie William Henry doch nicht! Nein, er war die Felsen hochgeklettert und querfeldein geflohen. Jetzt lag er schlafend unter einem schützenden Baum oder Felsen. Und morgen würde er sich auf den weiten Heimweg machen. Zu Tode erschrocken, aber am Leben.
So tröstete sich Richard in den Schlaf, versuchte der Wahrheit auszuweichen, die den anderen so deutlich vor Augen stand. Über eines war er freilich froh: dass Peg das nicht mehr erleben musste. Ein gütiger Gott hatte sie vorher zu sich genommen.
Am folgenden Tag versammelten sich mit Genehmigung des Bürgermeisters einige tausend Menschen, um nach William Henry zu suchen. Matrosen auf Wache suchten den Schlamm in ihrer unmittelbaren Umgebung ab, ab und zu sprang auch einer hinein, etwa um einen schmierigen, grauen Klumpen zwischen vierbeinigen Kadavern und dem Abfall von 50 000 Menschen näher anzusehen. Die Suche blieb freilich ohne Ergebnis. Wer sich ein Pferd leisten konnte, ritt zu entfernteren Orten wie Pill, Blaize Castle oder Kingswood und in die Dörfer, die von Clifton und Durdham Down aus zu Fuß zu erreichen waren. Wieder andere streiften am Ufer entlang, sahen in Fässern, unter lockeren Grassoden und überall nach, wo eine Leiche versteckt sein konnte. Aber niemand fand William Henry.
»Wir suchen jetzt seit einer Woche«, sagte Dick mit rauer
Stimme, »und ohne Erfolg. Der Bürgermeister sagt, es hat keinen Sinn mehr.«
»Ich verstehe schon, Vater. Aber ich werde niemals aufgeben. Niemals.«
»Du musst dich mit dem Tod des Jungen abfinden! Denk an deine Mutter, an das, was sie durchmacht.«
»Ich kann und will mich nicht damit abfinden.«
War der blinde Starrsinn besser für ihn als das Meer von Tränen, das er bei Marys Tod geweint hatte? Das Weinen hatte seinen Kummer wenigstens gemildert. William Henrys Verschwinden traf ihn furchtbar, noch furchtbarer als der Tod Pegs oder der kleinen Mary.
»Wenn Richard keine Hoffnung mehr hätte, William Henry lebend zu finden, hätte er nichts mehr, für das sich zu leben lohnte«, sagte Vetter James, der Apotheker. »Seine ganze Familie ist tot, Dick! So bleibt ihm noch eine kleine Hoffnung. Ich bete darum, dass die Leiche nie gefunden wird. Dann wird Richard weiterleben.«
»Aber das ist kein Leben«, antwortete Dick. »Es ist die Hölle auf Erden.«
»Für dich vielleicht und für Mag. Für Richard besteht das Leben in der Hoffnung. Lass ihm diese Hoffnung.«
Richard hatte keine Arbeit gefunden, doch konnte er immer im Cooper’s Arms mitarbeiten. Seit zehn Jahren betrieb Dick das Cooper’s Arms jetzt schon. Er war länger im Geschäft als die meisten anderen Wirte für die weniger anspruchsvolle Kundschaft. Natürlich würde er nie mit zahlungskräftigen Gästen wie der Steadfast Society oder dem Union Club rechnen können, aber das Cooper’s Arms hatte trotz der schrecklichen Krisenjahre nach wie vor seine Kundschaft. Sobald ein ehemaliger Stammgast wieder arbeiten konnte oder eine neue Arbeit gefunden hatte, kehrte er mit der ganzen Familie an den alten Futtertrog zurück. Dick konnte deshalb im Sommer 1784 nicht klagen, auch wenn das Geschäft nicht so glänzend lief wie noch zehn Jahre zuvor. Dick, Mag und Richard hatten jedenfalls genug zu tun. Und für William Henry musste ja kein Schulgeld mehr aufgebracht werden.
Zwei Monate vergingen. Im September begann bei Colston das neue Schuljahr. Der neue Schulleiter hieß allerdings nicht Mr Prichard. William Henry Morgans Verschwinden und der Selbstmord des Lateinlehrers George Parfrey hatten seine Hoffnungen auf das angesehene Amt zunichte gemacht. Da der alte Schulleiter für das Geschehene nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden konnte, blieb der Makel an Mr Prichard haften.
Etwa zur gleichen Zeit, als die Schule ihre Pforten wieder öffnete,
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