Insel des Sturms
vielleicht die Gestalt hinter dem Fenster des Schlafzimmers erblickt. Eine alterslose Frau mit langem, goldfarbenem Haar, der eine Träne, schimmernd wie ein Diamant, über die Wange rann.
Jude überstand auch den Rest des Festes glimpflich. Sie lachte und tanzte und plauderte. Es bedurfte keiner Mühe, sich ständig mit Menschen zu umgeben und so einen erneuten Zusammenprall mit Aidan zu vermeiden. Schwerer war es, ihn aus dem Haus zu drängen, als die Gäste sich zu verabschieden begannen, ihm lächelnd zu erklären, sie wäre vollkommen erschöpft und bräuchte dringend Schlaf.
Doch natürlich schlief sie nicht. Sobald sie allein war, rollte sie die Ärmel hoch. Sie wollte nicht denken, und die beste Methode, Gedanken auszuschalten, war hartes Arbeiten.
Sie sammelte die überall im Haus verteilten Teller und Gläser ein, spülte und trocknete sie ab, räumte sie anschließend sogar noch in die Schränke. Erst nach Stunden war sie fertig; doch obgleich sie tatsächlich so erschöpft war, wie sie gehofft hatte, gab ihr Hirn immer noch keine Ruhe, deshalb fegte und wischte sie nach dem Spülen noch die Küche.
Einmal meinte sie, aus dem Schlafzimmer das Schluchzen einer Frau zu vernehmen, doch sie ging der Sache nicht nach. Die Verzweiflung dieses Schluchzens trieb zwar auch ihr die Tränen in die Augen, doch sie drängte sie zurück. Ihre Tränen würden Lady Gwen nicht helfen. Sie hülfen ja nicht einmal ihr selbst.
Jude zerrte die Möbel an ihre ursprünglichen Plätze, nahm die Kehrmaschine aus dem Schrank und reinigte die Böden. Vor Erschöpfung war sie kreidebleich, und unter ihren Augen verliefen purpurrote Ringe, als sie sich schließlich die Treppe in ihr Schlafzimmer hinaufschleppte.
Doch sie hatte nicht geweint, und die körperliche Arbeit
hatte außer der geradezu betäubenden Erschöpfung alles in ihr ausgelöscht. Immer noch angekleidet, legte sie sich aufs Bett, drückte ihr Gesicht ins Kissen und zwang sich zu schlafen.
Im Traum tanzte sie mit Aidan im silbrigen Licht des magischen Mondes einen Walzer, umgeben von farbenfrohen Blumen, die schwerelos wie Feen mit ihren Köpfen nickten und sie beide in ihren köstlich süßen Duft hüllten.
Träumend ritt sie mit ihm auf dem breiten Rücken eines weißen, geflügelten Pferdes über leuchtend grüne Felder, sturmumtoste Meere und friedliche Seen von einem überirdisch tiefen Blau.
Dies war sein Angebot an sie gewesen. Sie hatte es genau gehört. Ein faszinierendes, friedvolles Land. Ein Heim. Eine Familie.
Nimm das alles, und nimm damit auch mich!
Aber sie hatte nein gesagt, hatte es sagen müssen. Dies war weder ihr Land noch ihr Heim noch ihre Familie. Könnte es nicht sein, ehe sie nicht so stark war, diesen Versprechungen, seinen Beteuerungen zu trauen.
Dann war sie in dem Traum verlassen, stand am Fenster ihres Schlafzimmers, während der Regen gegen die Scheiben schlug – denn bei all seinem Flehen kam doch das Wort Liebe nicht vor.
Als sie erwachte, schien draußen die Sonne, und das Schluchzen, das sie hörte, drang aus ihrer eigenen Kehle.
Ihr Hirn war vom Schlafmangel vollkommen betäubt und ihr Körper so schwach wie der einer alten, kranken Frau. Selbstmitleid. Jude kannte die Symptome allzu gut. Eine herannahende Depression. Nachdem ihr das plötzliche Ende ihrer Ehe den Boden unter den Füßen fortgerissen hatte, vegetierte sie damals wochenlang nach ein und demselben traurigen Muster vor sich hin.
Rastlose Nächte, endlose, unglückliche Tage, verhangen von Wolken des Elends und der Scham.
Doch dieses Mal würde es anders, nahm sie sich fest vor. Dieses Mal hatte sie alles unter Kontrolle, dieses Mal traf sie ihre eigenen Entscheidungen. Und die erste Entscheidung war, nicht abermals zu jammern, nicht mal eine Stunde.
Sie pflückte Blumen, wickelte ein hübsches Band um den Strauß und machte sich zusammen mit Finn und Betty auf den Weg zum Grab der alten Maude.
Das Unwetter, das in der vergangenen Nacht so urplötzlich heraufgezogen war, hatte sich wieder getrollt. Obgleich im Südwesten immer noch ein paar düstere Wolken den Himmel verdunkelten, war die Luft von herrlichem Duft erfüllt und frühsommerlich warm. Das Meer sang sein ewig gleiches, ehernes Lied und auf den Hügeln reckten die goldenen Butterblumen ihre Blüten ins weiche Licht der Sonne. Jude entdeckte ein Kaninchen, Sekunden, bevor der gelben Hündin sein Geruch in die gereckte Nase stieg, worauf sie wie eine Gewehrkugel hinter dem Haken
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