Insel hinter dem Regenbogen (German Edition)
„Vielleicht können wir sie heute Abend alle durchsehen.“
Die Kiste, die Tracy durchsuchte, war voller Papiere. Rezepte – die meisten davon noch nicht alt, andere aus der letzten Stadt, in der Herb gelebt hatte. Doch dort konnte sich keiner der jetzigen Bewohner an Herb erinnern. Tracy war es gelungen, den Bauträger zu finden, der für die Renovierung der alten Häuser zuständig gewesen war, und er hatte bestätigt, dass Herb und sämtliche Nachbarn von damals umgezogen waren.
Herb hatte eine Vorliebe für nutzlose Papiere gehabt. Offenbar war nichts Wichtiges dabei. Als sie den Boden der Kiste erreicht hatte, war sie kein Stück weiter als zuvor.
„Er hat viel Thunfisch gegessen“, sagte sie und schob die Kiste zur Seite. „Vielleicht besaß er Aktienanteile. Vielleicht steht er in irgendeiner Verbindung zu Starkists.“
„Er hat einen Bericht über jedes Schachspiel geschrieben, das er im Grambling Park oder im Freizeitzentrum gespielt hat“, sagte Wanda. „Jeden einzelnen Zug, an den er sich erinnern konnte. Und er muss oft ins Kino gegangen sein, als er noch in der Stadt lebte. Darüber gibt es auch zahllose Notizen. Was ihm gefallen hat und was nicht. Vielleicht hatte er Angst, es zu vergessen und möglicherweise für einen Film zu bezahlen, den er schon einmal gesehen hatte.“
„Wenn er auch nur im Entferntesten so war … wie ich, ist das egal.“ Alice blickte auf und lächelte schwach. „Ich vergesse immer alles …“
„Sie vergisst, wie die Filme ausgehen“, erzählte Olivia, als Alice nicht weitersprach. „Sie sagt, dass es egal sei, ob sie einen Film schon gesehen habe oder nicht, weil das Ende immer eine Überraschung sei.“
Alle lachten. „Keine Sorge, Alice“, sagte Wanda. „Das passiert mir auch. Seit den Wechseljahren.“
„Zu was bist du denn gewechselt?“, wollte Olivia wissen.
„Ich bin zu einer harten, kleinlichen, mittelalten Frau geworden.“
„Wie eine Hexe?“
„Du hast es erfasst.“
Olivia lachte.
Schweigend arbeiteten sie sich weiter durch die Papiere, bis Janya einen kleinen Karton hochhielt. „Der war ganz unten in der Kiste. Seht mal hinein.“ Sie stellte den Karton auf ihren Schoß. Tracy konnte den Inhalt nicht genau erkennen, also stand sie auf und trat näher.
„Orden? Kriegsorden?“
„Scheint so. Ja.“
Tracy nahm die Orden und hielt sie ins Licht. Die erste Medaille war herzförmig. Der Kopf von George Washington war eingeprägt. Sie drehte das Stück um und las vor: „Für militärische Verdienste.“
Wanda gesellte sich zu ihr und nahm ihr den Orden aus der Hand. „Ich weiß, was das ist. Das ist ein Verwundetenabzeichen. Seht ihr den roten Streifen in der Schleife, auch wenn sie verblasst ist? Mein Onkel hatte auch so eines. Ein Soldat erhält einen solchen Orden, wenn er verwundet wurde oder gefallen ist.“
„Interessant. Wissen Sie auch, was das hier ist?“ Tracy reichte ihr den zweiten Orden, auf dem sie einen griechischen Gott mit einem zerbrochenen Schwert zu erkennen glaubte.
Wanda drehte die Medaille in der Hand. „1941 bis 1945. Ich schätze, das ist eine Erinnerungsmedaille. Wenn man im Krieg gedient hat, bekommt man sie. Mein Onkel hatte auch so einen Orden. Er hat uns immer mit seinen Orden spielen lassen. Er sagte, dass ein Mann tun müsse, was ein Mann tun muss, und dass es nicht darum gehe, ein paar glänzende Stücke Metall zu verdienen.“
Wanda gab sie Tracy zurück. „Das kommt mir alles bekannt vor – und nicht nur wegen Onkel Willie. Vielleicht hat Herb mir erzählt, dass er im Krieg Orden bekommen hat. Mir geht es nur so wie Alice, und ich kann mich lediglich daran erinnern, irgendwo davon gehört zu haben.“
Alice lächelte und nahm es ihr nicht übel. „Das ist unwahrscheinlich. Er hat nie, na ja, über den … Krieg geredet. Er meinte, das Ganze sei nichts …“
„Nichts, an das er sich erinnern wollte“, schloss Wanda nach einer langen Pause für sie. „Ich verstehe das. Mein Onkel hat auch nicht oft davon erzählt.“ Sie nickte, als würde das das Thema beenden. „Aber irgendetwas lässt mir keine Ruhe.“
Orden klangen auch für Tracy vertraut. Aber sie war müde, und ihr Gehirn weigerte sich, irgendwelche Verbindungen herzustellen. Sie war mit dem Fußboden weiter vorangekommen, als sie gedacht hätte. Stundenlang hatte sie den Fliesenkleber verteilt, ihn mit der gezahnten Seite der Kelle glatt gestrichen, eine Fliese direkt auf die Linie gelegt, Abstandhalter zwischen die
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