Insel meiner Sehnsucht Roman
und der Grund, warum die Bewohner von Southwark einen weiten Bogen darum machten.
Am Ende des Kais ankerte ein Schiff, eines von etwa hundert, die zurzeit im Hafen lagen und aus allen Teilen der Welt stammten – Schiffe in allen Größen und Formen. Aber dieses war einzigartig.
Kassandra stieg aus dem Wagen und musterte den hohen Mast, den geschwungenen Bug, den ein gehörnter Stierkopf mit roten Augen schmückte. Dieses uralte Symbol von Akora erinnerte jeden Betrachter an die Macht und die unbeugsame Willenskraft des kämpferischen Königreichs.
Für Kassandra war das Schiff nur eines von vielen, die sie jeden Tag im Hafen von Ilius gesehen hatte.
Der Kapitän eilte die Laufplanke herab und begrüßte Alex respektvoll. Dann gingen sie beiseite, um sich zu besprechen. Andere Männer erschienen und verluden das Gepäck.
Unterdessen frischte der Wind auf und kündigte den Wechsel der Gezeiten an. Kassandra wartete auf dem Kai, bis es keinen Grund mehr gab, nicht an Bord zu gehen. Aber bevor sie sich zur Laufplanke wandte, zögerte sie und spähte an den Lagerhallen der Akoraner vorbei.
Wo blieb Royce? Sie hatte angenommen, er würde hierher kommen und sich verabschieden – wenn schon nicht von ihr, so doch von seiner Schwester und seiner Nichte. Zuletzt hatte sie ihn vor zwei Tagen beim Dinner gesehen, und sie wusste nur, dass er sehr beschäftigt war. Aber so würde er seine Familie wohl kaum abreisen lassen – ohne ein einziges Wort.
Offensichtlich hatte er genau das vor, denn er ließ sich nicht blicken. Die letzten Truhen und Kisten wurden an Bord gebracht, und Alex hatte Joanna in ihre Kabine begleitet, wo sie ungestört Abschied nahmen. Bald, sehr bald würde das Schiff auslaufen.
Nun, vielleicht war es so am besten … Den Kopf hoch erhoben, stieg Kassandra die Laufplanke hinauf. Kurz bevor sie das Deck erreichte, hörte sie Wagenräder poltern, drehte sich um, und ihr Herz schlug sofort schneller.
Royce sprang aus der Kutsche. »Einen schönen guten Morgen!«, rief er.
»Den wünsche ich dir auch«, erwiderte sie und bildete sich wider besseres Wissen ein, ihre Stimme würde einfach nur höflich klingen. »Wenn du dich von Joanna verabschieden möchtest – sie ist schon in ihre Kabine gegangen.«
»Vermutlich zusammen mit Alex, und ich finde, wir sollten den beiden die Zweisamkeit gönnen.« Er nickte den Lakaien zu, die seinen Wagen verließen – und mehrere Truhen auszuladen begannen.
»Haben wir etwas vergessen?«, fragte Kassandra.
»Das will ich nicht hoffen. Jetzt ist es zu spät, um nach Mayfair zurückzufahren und irgendwelche Sachen zu holen.«
»Aber – wieso …?«
In diesem Moment kam Alex an Deck, sichtlich bemüht, seine Fassung zu bewahren. Beim Anblick seines Schwagers brachte er ein schwaches Lächeln zustande. »Da bist du ja! Ich dachte schon, du würdest dich nicht loseisen können.«
»Natürlich hat Prinny mich so lange wie nur möglich aufgehalten«, erklärte Royce. »Zum Glück muss sogar er die Bitte eines anderen Monarchen erfüllen.«
Kassandra starrte die beiden Männer verwirrt an. »Was für eine Bitte?«
»Habe ich das nicht erwähnt?« In geheuchelter Unschuld hob Alex die Brauen. »Atreus' Brief enthielt nicht nur die Anordnung, du müsstest sofort heimkehren. Außerdem schrieb er mir, er würde gern mit Lord Hawkforte zusammentreffen, um – wie drückte er sich aus? – ›gute Beziehungen zwischen dem Königreich Akora und Großbritannien anzustreben‹. Ja, so lauteten seine Worte.«
Konnte sie ihren Ohren trauen? »Atreus will Royce sehen?«
»Das hat er mir unmissverständlich mitgeteilt.«
»Und du hast mit nichts davon erzählt?«, warf sie ihrem Bruder vor.
»Tut mir Leid …« Allzu zerknirscht wirkte er nicht. »Ehrlich gesagt, es sollte eine Überraschung für Joanna sein. Ich dachte, es würde sie ein bisschen aufmuntern und ihren Trennungsschmerz mildern. Das verstehst du doch?«
Gewiss – und sie schämte sich. Nur weil sie zwischen Freude und Bestürzung hin- und hergerissen war, durfte sie die Empfindungen und Bedürfnisse anderer Menschen nicht unberücksichtigt lassen. »Ja«, murmelte sie und wich dem Blick des goldblonden Mannes aus, der am Kai stand und sie beobachtete – und viel zu viel wusste, wie sie befürchtete.
»Stört es dich, dass Royce euch begleiten wird?«, fragte Alex.
»Nein. Sei nicht albern. Was sollte mir das ausmachen? Und Joanna wird sich sicher getröstet fühlen. Wie nett von dir, daran zu denken,
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