Insel meiner Sehnsucht Roman
fragte Joanna: »Hast du denn gar nichts davon gewusst?«
»Ich hatte keine Ahnung. Wahrscheinlich wollte mir mein Bruder nichts sagen, weil er fürchtete, ich würde dir das Geheimnis verraten. Und ich glaube, bis zur letzten Minute bestand die Gefahr, der Prinzregent würde Royce nicht gehen lassen.«
»Natürlich, das hätte Prinny ähnlich gesehen.« Joanna ging zur Wiege, um sich zu vergewissern, dass ihre Tochter tief und fest schlief. Dann setzte sie sich in die Nähe einer Luke. »Aus vielerlei Gründen ist mir der Abschied von London schwer gefallen. Aber den Gesellschaftskreis rings um den Prinzregenten verlasse ich sehr gern.«
»Alex konnte gar nicht anders handeln – er musste uns wegschicken.«
»Das nehme ich an… Nein, jetzt bin ich ungerecht – ich weiß es«, verbesserte sich Joanna. »Aber – beim Himmel, es tut so weh.«
Kassandra kniete vor ihr nieder und ergriff ihre Hände. »Glaub mir, Alex wird seine Familie bald wieder in die Arme schließen.«
In Joannas Augen leuchtete ein Hoffnungsschimmer. »Hast du es in deiner Fantasie gesehen?«
»Nein, nicht direkt.« Wenn es um ihre Visionen ging, konnte Kassandra nicht lügen, so sehr sie es manchmal auch wünschte. »Trotzdem bin ich mir sicher.« Völlig sicher – denn sie hatte beobachtet, was geschehen musste, um die Invasion von Akora zu verhindern, um die schreckliche rote Schlange aufzuhalten, die sich durch die Straßen hinaufwinden und schwarzen Rauch und Leichen hinterlassen würde. Das hatte sie erblickt und ihr Schicksal akzeptiert.
»Wenn du doch Recht hättest«, seufzte Joanna. »Natürlich müsste ich gegen meine Schwäche ankämpfen, aber ich ertrage die Trennung von Alex nicht.«
Mitfühlend lächelte Kassandra. Dann stand sie auf und betrachtete ihre Nichte, die friedlich schlief. Was immer auch geschehen mochte – es gab eine Zukunft, und diese Erkenntnis tröstete sie. »Unsinn, du bist nicht schwach«, widersprach sie. »Du und meine Mutter – ihr seid die stärksten Frauen, die ich kenne.«
»O Kassandra, es ist so lieb von dir, das zu sagen.« Nun erhellte sich Joannas Miene ein wenig. »Sicher wird sich Phaedra wahnsinnig freuen, uns wiederzusehen.«
»Wenn sie wüsste, dass du mit Amelia nach Akora fährst, würde sie uns auf halbem Weg entgegenkommen. Um das zu wissen, brauche ich keine Visionen.«
»Ich kann es kaum erwarten, sie zu überraschen – und natürlich auch Andrew.«
»Ja, mein Vater wird überglücklich sein. Ich bin so froh, weil die beiden aus Amerika zurückgekommen sind. Dort ging es ihnen sehr gut. Aber wir alle haben ihre Heimkehr herbeigesehnt.«
»Irre ich mich, oder hat Alex einen besonderen Grund für ihre Rückreise erwähnt?«
»Ja«, bestätigte Kassandra, die unschwer erkannte, dass Joanna sich von ihrem Kummer ablenken wollte. »Vater befürchtet einen weiteren Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien.«
»Eigentlich sollte ein Krieg genügen.«
»Nun, vielleicht nicht … Wie auch immer, ich glaube, Mutter wollte ohnehin nach Hause kommen. Sie hat mir geschrieben, sie müsse sich endlich wieder um ihre Kinder kümmern, die längst im heiratsfähigen Alter sind.«
»Hat sie ein besonderes Auge auf dich geworfen?«, neckte Joanna ihre Schwägerin.
»Eher auf Atreus. Immerhin ist er der älteste von uns Geschwistern. Nach Alex Hochzeit erklärte sie ihm, er müsse sich endlich eine Braut aussuchen.«
»Was er bisher nicht getan hat.«
»Wegen der unsicheren Lage auf Akora ist das nicht so leicht für ihn. Wenn er in eine der aristokratischen Familien einheiratet, wird er die anderen beleidigen. Er könnte auch ein Mädchen aus dem Volk zur Frau nehmen. Doch dann müsste seine Braut die Fähigkeiten mitbringen, die ihre gehobene Stellung verlangt. Außerdem ist er im Grunde seines Herzens ein Romantiker.«
»Also möchte er sich verlieben«, meinte Joanna.
»Natürlich würde er das bestreiten.«
Während sie Atreus' Zukunft besprachen, kam Royce in die Kabine. Wie festgewurzelt blieb er stehen und sah sie erstaunt an. »Großer Gott!«
»Kennst du meinen Bruder, den Diplomaten , Kassandra?«, fragte Joanna trocken.
»Tut mir Leid – ich wollte nicht …«, stammelte er. Erfolglos versuchte er, seinen Blick von Kassandra loszureißen. Sie sah so – wunderbar feminin aus, noch viel schöner als die Kassandra, die er in England gekannt hatte. Das Kleid, oder wie immer man dieses Gewand nennen mochte, glich einer Tunika, einem hauchdünnen,
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