Insel meiner Sehnsucht Roman
erhielt, und weitere Tage bis zu seiner Ankunft auf Akora. Natürlich vorausgesetzt, die Situation in England gestattete ihm, hierher zu reisen.
Entlang des Kais entstanden Gerüchte, drangen vom Hafen die Straßen hinauf, durch das stolze, von steinernen Löwinnen flankierte Tor des Palastes und in seine heiligen Hallen. Gerüchte, vom Meereswind herangeweht – Gerüchte von Ereignissen außerhalb des Inselreichs …
Angeblich hatte Kaiser Napoleon, der die Welt zu erobern suchte wie einst Alexander der Große, seinen begehrlichen Blick nach Russland gerichtet. Kassandra fiel es schwer, das zu glauben, denn dieses Land, wenn auch sehr weit von ihrer Heimat entfernt, war den Akoranern wohl bekannt. Nur ein Narr oder ein Verrückter würde sich einbilden, es würde sich erstürmen lassen. Hatte Napoleon den Verstand verloren, oder war er überaus selbstgefällig geworden, von seinen Siegen verwöhnt? Das würde sich bald herausstellen.
Auch andere Geschichten erreichten Akora – Gerüchte über einen Krieg zwischen England und Amerika, wo die Bewohner der einstigen Kolonien den dreisten Standpunkt vertraten, mit der Freiheit, in Feuer und Blut gewonnen, sollten sie auch respektiert werden. Stattdessen wurden ihre Schiffe gekapert, die Besatzungen zum Dienst in der britischen Marine gepresst und ihre Fischereirechte verletzt. Zudem verhöhnte man sie, nannte sie schwach und hilflos. Nach der Überzeugung Andrews, der in Amerika gelebt hatte, waren sie weder das eine noch das andere.
»Schlecht organisiert«, erklärte er eines Abends, als sich das Tischgespräch um dieses Thema drehte. »Und sie lieben den Klang ihrer eigenen Stimmen viel zu sehr, denn jeder Mann muss zu Wort kommen. Nachdem sie den süßen Geschmack der Freiheit gekostet haben, werden sie ihr nicht so leicht entsagen.«
»Hoffentlich bricht kein Krieg aus«, seufzte Phaedra. Sie aß inzwischen etwas mehr als an den Tagen nach dem Attentat auf Atreus, sah aber immer noch blass und erschöpft aus. »So viel Leid – und wofür? Das Leben ist zu kurz, um so leichtfertig vergeudet zu werden.«
Während ihr Mann sie besorgt musterte und Kassandra nach tröstlichen Worten suchte, fragte Royce: »Aber wenn das Opfer eines Lebens edlen Zielen dient, kann es Folgen nach sich ziehen, die weit in die Zukunft hineinreichen, nicht wahr? Wie die Wellen eines Teichs, in den ein Stein geworfen wird.«
Solche Dinge nimmt er wichtig, dachte Kassandra und beobachtete die Miene ihrer Mutter, die sich ein wenig er hellte. Und er sieht viel zu viel… Doch er hatte sicher nicht von ihr gesprochen. Es gab keinen Grund, warum sie fürch ten sollte, er würde die dunklen Mächte ihres Schicksals spüren.
Drei Tage. Am Morgen des vierten verließ sie das Zimmer, wo die Leidenschaft der letzten Nacht immer noch das Bett wärmte, und eilte in den Hof. Dort wurde sie von Royce und mehreren Höflingen erwartet. Mellinos hatte sich entschuldigt, und Troizus war wie üblich in der Stadt beschäftigt. Aber etwa zwei Dutzend hatten sich versammelt – womöglich zu viele für Kassandras Zwecke. Trotzdem schickte sie niemanden weg, aus Angst, sonst könnte sie Fragen heraufbeschwören, die sie nicht beantworten wollte.
Sie gingen die gewundene Straße zum Hafen hinab. Unterwegs wurden sie von zahlreichen Stadtbewohnern begrüßt. Die Stimmung erschien Kassandra immer noch gedrückt, denn die Leute warteten auf eine Nachricht von ihrem Vanax. Doch im Großen und Ganzen hatte sich das Leben normalisiert. Dafür war sie dankbar. Kinder mussten ernährt, Feldfrüchte geerntet, Geschäfte abgewickelt werden. Und vielleicht fanden die Menschen Trost in ihrer Arbeit.
Unter der Morgensonne schimmerte das Wasser des Hafens in dunklem Blau. Ein Schiff mit einem Stierkopf am Bug lag neben dem Pier. Sobald sie an Bord gegangen waren, wurde der Anker gelichtet.
Auffrischender Wind füllte die Segel und trieb sie auf das Binnenmeer hinaus. Dort begegneten sie vielen Schiffen, die Ilius ansteuerten. Als die Seefahrer die Atreidenflagge am Großmast erblickten, hoben sie zum Gruß die Ruder. Kassandra stand im Bug und winkte ihnen zu, bis ihr Arm schmerzte und ihr Lächeln erstarrte.
Schließlich hatten sie sich so weit vom Hafen entfernt, dass ihnen keine Schiffe mehr entgegenkamen. Kassandra entspannte sich ein wenig und seufzte leise.
»Was für ein schöner Tag!«, bemerkte Royce, der in ihrer Nähe an der Reling lehnte. Wie sie zugeben musste, wirkte er im kurzen Faltenrock eines
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