Insel meiner Traeume
Urteilsvermögen in den Augen seines Bruders las. Natürlich erkannte der Vanax, wie sich seine Absichten auf ihn selbst und das Königreich auswirken mochten. Diesen Kurs hatte er sehr sorgfältig und nach gründlicher Überlegung gewählt. Das wusste Alex, denn er hatte seinem Bruder bei jenem schwierigen Entschluss beigestanden.
»Im Augenblick ändert sich die Welt wie nie zuvor«, meinte er. »Mit den jetzigen Umwälzungen lässt sich nichts vergleichen - weder die Invasionen der Barbaren noch der Untergang Roms. Diese neue >Industrialisierung<, die von England ausgeht, wird sich auf dem ganzen Globus ausbreiten. Wenn wir uns dagegen sträuben, bleiben wir auf der Strecke.«
Atreus nickte. »Darauf musst du mich nicht hinweisen. Die Bücher und die Maschinerie, die du mir mitgebracht hast, überzeugen mich restlos.«
»Und warum können es Deilos, Troizus, Mellinos und ihre Anhänger nicht verstehen? Akora hat stets dank seiner Stärke überlebt. Um unsere Macht aufrechtzuerhalten, brauchen wir Reformen. Früher kämpften wir mit Bronzeschwertern, jetzt benutzen wir Stahl. Hier war das Schießpulver unbekannt, nun stellen wir unser eigenes her. Unsere Schiffe sind größer, wendiger und besser bewaffnet denn je. Dass sich in unserem Land nichts verändern darf -dieser Unsinn widerspricht jeder realistischen Betrachtung.«
»Da stimme ich dir rückhaltlos zu. Allerdings musst du zugeben - der Kurs, den wir einschlagen wollen, unterscheidet sich ganz gewaltig von den Neuerungen in unserer Vergangenheit. Diesmal geht es nicht nur um eine Stärkung unserer Defensive, die das Ausland fern hält. Stattdessen müssen wir ein Teil der Außenwelt werden.«
»In vorsichtigen, wohl überlegten Schritten«, erinnerte Alex seinen Bruder. »Und stets mit Rücksicht auf unser Erbe. Der Sinn unseres Projekts liegt doch darin, zu schützen, was wir lieben.«
Obwohl Atreus lächelnd zugehört hatte, schlug er in ernstem, eindringlichem Ton vor: »Ich könnte dich mit einem Posten im Regierungsrat betrauen. Seit langer Zeit wird die Mitgliederzahl auf sechs beschränkt. Dies ist kein ehernes Gesetz. In unserer Geschichte saßen schon öfter ein paar mehr Männer im Rat.«
»Aber noch kein Xenos.«
»Das bist du nicht«, protestierte der Vanax.
»Also gut, ein halber Xenos - in den Augen der Ratsherren wäre es ein und dasselbe.«
»Alle wissen, dass ich niemandem so bedingungslos vertraue wie dir.«
»Dafür bedanke ich mich.« Alex’ Stimme nahm einen heiseren Klang an. »Trotzdem bleibe ich besser hinter den Kulissen. Auf diese Weise kann ich kommen und gehen, ohne mich vor dem Rat zu verantworten, und das finde ich sehr vorteilhaft.«
»Ja, vielleicht hast du Recht. Übrigens - glaubst du wirklich, dass Royce Hawkforte hier ist?«
»Seine Schwester zweifelt nicht daran.«
»Hast du in London mit ihr gesprochen?«
»Nein...«
Alex zögerte, denn seine Aufmerksamkeit wurde von Wächtern und Dienern abgelenkt, die sich dem Tor des Palastes näherten. In ihrer Mitte schwankte eine geschlossene Sänfte.
»Nicht in London...«
An einer Seite der Sänfte bewegten sich die Vorhänge. Hin und her gerissen zwischen einem fast unwiderstehlichen Lachreiz und der Sorge um Joannas Fähigkeiten, eine züchtige Frau zu spielen, bemerkte er den abschätzenden Blick des Vanax’ nicht.
Aber Atreus’ Belustigung war unverkennbar, als er fragte: »Was hast du denn diesmal aus England mitgebracht, mein Bruder?«
7
Mit maßlosem Staunen spähte Joanna zwischen den Vorhängen der Sänfte hindurch. Vom Meer aus betrachtet, hatte Ilius nur sparsam enthüllt, was es zu bieten hatte. Wohin sie auch schaute - überall entzückten lebhafte Farben und Formen das Auge. Die Mauern der meisten Gebäude waren weiß, blau, rot oder grün bemalt, viele mit exquisiten Wandmalereien geschmückt. Während die Sänfte eine steile Straße zum Palast hinaufgetragen wurde, beobachtete Joanna einige junge Künstler, die eine Hausmauer mit dem Bild eines prächtigen Gartens verzierten. Scheinbar nahtlos verschmolz er mit den echten blühenden Gärten der Stadt.
Vor allen Fenstern und Türen standen große Töpfe voller Blumen. Auch von den Dächern und aus Körben, an hohen Pfählen befestigt, ergossen sich Blütenkaskaden. Hinter manchen Häusern sah Joanna kleine Obst- und Gemüsegärten. Ungehindert liefen Hunde umher, Katzen dösten im Sonnenschein oder putzten sich träge. Aber andere Tiere -Ziegen, Hühner und ein paar Schweine - waren
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