Insel meiner Traeume
zuschauen.«
Eindeutig die brauchbarste aller möglichen Ablenkungen, dachte Joanna. Die Künstler von den Wanderbühnen, die in Hawkforte aufgetreten waren, hatten sie stets fasziniert. Und sie hielt die zahlreichen Londoner Bühnen für den einzigen Vorzug, der sie einigermaßen mit dieser Stadt aussöhnte. Aber eine Aufführung auf Akora zu sehen - darüber freute sie sich sogar in ihrer beklagenswerten Situation. Das Theater glich den Arenen, die sie in Griechenland bewundert hatte - ein hufeisenförmiger Zuschauerraum mit steinernen Bänken unter freiem Himmel, gegenüber einer Plattform, auf der die Schauspieler gerade ihre Plätze einnahmen. Durch ein großes, bogenförmiges Portal konnte das Publikum die Ereignisse auf der Bühne beobachten. Kassandra und Joanna setzten sich in die Nähe anderer Schaulustiger.
»Seit ein paar Wochen werden die >Troerinnen< von Euripides einstudiert«, wisperte Kassandra. »Kennen Sie das Stück?«
»Ja, vor ein paar Jahren habe ich es in Athen gesehen, und ich war erstaunt, weil es so modern wirkt. Besonders die Kriegsgräuel werden eindringlich dargestellt.«
Die Prinzessin nickte. »Wahrscheinlich hat der Vanax diese Tragödie aus einem ganz bestimmten Grund ausgesucht.«
Während sich vor Joannas Augen die Geschichte des untergegangenen Troja, getöteter Krieger und versklavter Frauen abspielte, wurde sie vom zeitlosen Schmerz der Witwen und Mütter gefesselt, die um geliebte Menschen trauerten und einer noch grausigeren Zukunft entgegenblickten. Zehn lange Jahre, so hieß es in der Sage, hatten sie geduldig einen Krieg ertragen, der nicht ihr Werk war. Loyal und fraglos hatten sie die Entscheidungen der Männer akzeptiert und waren, wie es sich geziemte, am heimischen Herd geblieben. Zur Belohnung verloren sie alles, was sie liebten - ihr Zuhause, Ehemänner, Kinder - alles.
Über Joannas Wangen rollten heiße Tränen, als der trojanischen Prinzessin Andromache, der Witwe des gefallenen Hektor, ihr Kind entrissen und über die Zinnen der einst so stolzen Stadt in den Tod geschleudert wurde. Reglos und hingerissen saßen die wenigen Zuschauer da, die sich zur Probe versammelt hatten, die Frauen sichtlich gerührt, die Männer mit grimmigen Mienen. Und alle hingen wie gebannt an den Lippen der Schauspieler. Als die trojanische Königin Hekuba schließlich in die Gefangenschaft geführt wurde, schien das Publikum den Atem anzuhalten. Auf dem Theater am grünen Hang, oberhalb der schönen Hauptstadt Ilius, lastete die Erinnerung an eine alte Tragödie so schmerzlich, dass sie immer noch Herzen brach.
»Hat der Vanax dieses Stück aus dem Grund gewählt, den ich zu kennen glaube?«, fragte Joanna, als sie der Prinzessin aus der Arena folgte.
Kassandra blieb stehen und blickte zur leeren Bühne zurück.
Dort schienen sich die Schatten der Schauspieler immer noch zu bewegen. »Um unser Volk zu warnen, um uns vor Augen zu führen, dass es unseren Frieden und unsere Sicherheit nicht für selbstverständlich halten darf? Da
Atreus nur selten etwas tut, ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen, haben Sie vermutlich Recht, Lady.«
»Glaubt er wirklich, seinem Inselreich könnte eine Invasion drohen?« Allein schon der Gedanke erfüllte Joanna mit kaltem Entsetzen - insbesondere nach dem beklemmenden Theaterstück, das sie soeben gesehen hatte.
»Mag diese Gefahr auch bestehen - bedenken Sie bitte -alle, die in Troja kämpften, ganz egal, auf welcher Seite, waren unsere Ahnen. Sie sprachen dieselbe Sprache, verehrten dieselben Götter, und sie hatten gemeinsame Wurzeln. Letzten Endes erzählt Euripides in diesem Stück, was geschieht, wenn sich manche Menschen gegen ihr eigenes Volk wenden und verraten, was seinen Ruhm begründet hat.« Kassandra schwieg, bis sie sich vom Theater entfernt hatten und allein waren. Dann fügte sie hinzu: »Atreus ist in einer schwierigen Lage. Wenn er Deilos als Mitstreiter einer geplanten Rebellion bezichtigt, wird der Ratsherr alles abstreiten und ihm vorwerfen, er würde ihn zu Unrecht diffamieren. Gerechtigkeit für alle Akoraner - dafür zu sorgen, ist die wichtigste Pflicht des Vanax und in diesem Fall schwer zu erfüllen. Aber mit dieser Theateraufführung sendet er eine Botschaft an seine Untertanen, die niemandem entgehen wird - Deilos und seinen Anhängern gewiss nicht.«
Also wusste die Prinzessin Bescheid über die oppositionellen Kräfte, die vorerst nur im Untergrund agierten. »Ist es klug, diesen Ratsherren zu bedeuten, der
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