Insel meines Herzens
nicht mehr jener verborgene Schatten, der über ihrem Leben hing.
Draußen, jenseits der hohen Fenster, verdünnte sich der Nebel, aufgelöst vom Wind, der unerbittlich blies. Sie versuchte ihn zu ignorieren – und zu ihrer Verblüffung schaffte sie das in Atreus’ Gegenwart sogar.
»Aber Sie haben die Tragödie überlebt, Brianna«, betonte er sanft. »Sicher wissen Sie, dass dies der inbrünstigste Wunsch Ihrer Eltern war.«
»Ich erinnere mich nur ganz schwach an die beiden. Sie schenkten mir das Leben. Acht Jahre lang müssen sie gut für mich gesorgt haben. Und mir ist fast nichts von ihnen geblieben.«
»Woran erinnern Sie sich?«, fragte er und umfing ihre Hand noch fester.
An so viel, an so wenig. »Eine Singstimme, wie aus weiter Ferne.... Gewiss die Stimme meiner Mutter. Und ein traumhafter Moment, wo ich durch die Luft wirbelte... Vielleicht trug mich mein Vater auf seinen Schultern. Und ein paar andere vage Visionen... Nichts, was zählen würde.«
»Sie haben sich selbst, Brianna...«
Da schaute sie in seine Augen und fühlte seine Kraft. »Was meinen Sie?«
»Mit der Hilfe Ihrer Familie auf Akora sind Sie herangewachsen und haben sich zu dem Menschen entwickelt, der Sie sind. Aber ein Großteil Ihres Wesens stammt von Ihren leiblichen Eltern ab. Wenn Sie in Ihr Herz blicken, werden Sie irgendetwas von ihnen darin finden.«
Nur ganz selten spähte sie in ihr Inneres. Was sie dort entdecken mochte, ängstigte sie zu sehr. »Daran habe ich nie gedacht...«
»Dann tun Sie es jetzt. Überlegen Sie, was Sie von ihrer akoranischen Familie unterscheidet. Nichts Auffälliges oder Offensichtliches, eher kleine Dinge.«
Ja, kleine Dinge waren ungefährlich, darüber konnte sie nachdenken. »In meiner eigenen Gesellschaft fühle ich mich am wohlsten. Auf meine akoranischen Verwandten trifft das nicht zu. Im Gegensatz zu mir sind sie sehr gesellig.«
»Da sehen Sie es – das liegt in Ihrer Natur. Was sonst?«
»Ich vertrage keine Erdbeeren, davon wird mir übel, und ich bekomme sogar Nesselfieber. Aber meinen Angehörigen schaden sie überhaupt nicht.«
»Erdbeeren? Das muss ich mir merken.«
Warum?, hätte sie beinahe gefragt. Aber die Antwort, die sie womöglich hören würde, erschreckte sie.
Nein, das stimmte nicht – sie wäre beglückt, rettungslos hingerissen. »Atreus...« Ganz nahe saß er bei ihr, seine Kraft und die Wärme seines Körpers erschienen ihr viel zu verlockend.
»Brianna?«
»Hatten Sie wirklich vor, mir dies alles zu erzählen?«
»So einfach – ist es nicht.«
Dicht nebeneinander, auf dem Sofa vor dem Kaminfeuer, während draußen der Nebel umherschwebte und die Nacht in den Morgen überging...
»Ich dachte, damit sollte ich warten.«
Was er meinte, wusste sie nicht. Aber es spielte auch gar keine Rolle, denn jetzt spürte sie seine Lippen auf ihren, heiß und leidenschaftlich – nicht behutsam, wie sie es erwartet hatte, sondern hungrig und fordernd. Und so wundervoll... Sein Mund stillte eine Sehnsucht in ihrem Innern, von der sie bisher nichts geahnt hatte.
Heiliger Himmel, der Mann konnte küssen! Das spürte sie sofort, und dabei fand sie es belanglos, dass sie nie zuvor geküsst worden war. Zumindest nicht auf diese Weise...
Sie war eine wohlerzogene junge Akoranerin, tugendhaft, in jeder Hinsicht gebildet, und deshalb verfügte sie über ausreichende theoretische Kenntnisse, was die Beziehung zwischen Männern und Frauen betraf.
Auf Akora beging niemand den Fehler zu glauben, man müsste die Unschuld mit Unwissenheit gleichsetzen.
Aber keiner ihrer Lehrer und Lehrerinnen hatte sie auf die überwältigende Realität vorbereitet, die Atreus ihr jetzt bot. Nicht einmal annähernd...
Betört von wildem Entzücken und wachsendem Verlangen, konnte sie nicht mehr denken und kaum atmen. Doch darauf kam es nicht an. Nur sein Mund war wichtig, die Stärke seiner Arme, die sie umschlangen, das plötzliche, verzehrende Gefühl, dies wäre so gut, so richtig.
In diesem Moment existierte nichts anderes. Sie verwandelte sich in eine Frau, die sie nicht kannte, in der sie ihr eigenes vertrautes Wesen vergeblich suchte...
... bis er sich abrupt aufrichtete. Die Augen überschattet, starrte er sie an. »Geh ins Bett«, stieß er heiser hervor.
»W-was...?«, stammelte sie und rang mühsam nach Luft.
Da sprang er auf und eilte zum Fenster. Um sich möglichst schnell von ihr zu entfernen? Die Hände geballt, kehrte er ihr den Rücken und wiederholte: »Geh ins Bett,
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