Insel meines Herzens
begleiten?«
»Selbstverständlich«, entgegnete Royce im Ton eines Mannes, der jedes Hindernis überwinden würde. »Aber ich muss ein paar Tage in London verbringen, um noch einiges zu erledigen. Vermutlich willst du deinen Aufenthalt nicht verlängern...«
»So eilig habe ich es nicht, dass ich meinem Gastgeber Unannehmlichkeiten bereiten oder meine Pflicht gegenüber meiner Schwester vernachlässigen würde. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
»Morgen früh fahre ich nach London. Prinny muss einfach begreifen...«
»... wie dringend der Vanax dich für weitere Diskussionen über intensivere Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und Akora braucht. Das werde ich in einem Brief betonen, den ich dir mitgebe.«
Royce lachte. »Was für eine ausgezeichnete Idee! Vielen Dank, das wird mir helfen, dieses Problem zu lösen.«
Nach dem Dinner schrieb Atreus den Brief, dann zog er sich zurück. Er fand keinen Schlaf, und er verschwendete auch keine Zeit damit, ihn zu suchen. Stattdessen trat er an ein Fenster seines Gemachs und betrachtete das Mondlicht, das sich im weiß gefleckten Wasser spiegelte. Kurz entschlossen wandte er sich ab. In einen Umhang aus schwarzer Wolle gehüllt, trat er in die Nacht hinaus. Vom Meer her wehte ein kalter, frischer Wind herüber – eher belebend als unangenehm. Er überquerte den Rasen an der Seite des Hauses, wanderte vorbei an den Gärten, die bis zum Frühling schlummerten, zu den alten steinernen Wällen, die einen Ausblick zur kleinen Stadt und zum Hafen boten. Doch er schaute nicht in diese Richtung, sondern drehte sich zu Hawkforte um. Das Schloss schien über den dunklen Hügeln zu schweben und gleichzeitig mit ihnen zu verschmelzen.
Nach akoranischen Maßstäben war Hawkforte jung. Erst seit neun Jahrhunderten erhob es sich an dieser Küste, während Atreus in Räumen lebte und arbeitete, die seine Ahnen jahrtausendelang benutzt hatten. Trotzdem strahlte Hawkforte die ungebrochene Kontinuität eines Heims und seiner Bewohner aus, die niemals gewankt, Schwäche gezeigt oder sich irgendjemandem unterworfen hätten. Ringsum war die Welt immer wieder erschüttert oder in Schutt und Asche gelegt worden. Und Hawkforte hatte die Stellung gehalten. In dieser Hinsicht glich es Akora.
Solche Mauern schienen das Echo der Vergangenheit zu bewahren. Trotz seiner Erfahrungen bei der Wahl zum Vanax war Atreus kein Mystiker – und ganz sicher nicht abergläubisch. Und doch, manchmal war er durch den Palast von Ilius gewandert, um eine Ecke gebogen, oder er hatte einen Raum betreten und etwas ganz Gewöhnliches getan – und auf einmal den Eindruck gewonnen, er wäre nicht allein. Deutlich spürte er die Gegenwart anderer Personen, die unsichtbar dieselben Dinge erledigten, aus denselben Gründen.
Auf Hawkforte hatte er nichts dergleichen erlebt und das auch gar nicht erwartet. Andererseits, auch hier empfand er – irgendetwas. Vielleicht war das nicht erstaunlich. Immerhin gehörte er dieser Familie an, nicht nur durch die ehelichen Bande seiner Geschwister, sondern auch durch den Hawkforte-Ahnherrn, der sein Schicksal auf Akora gefunden hatte.
Plötzlich frischte der Wind auf, holte ihn in die Gegenwart zurück und erinnerte ihn...
Brianna fürchtete den Wind.
Vor seinem geistigen Auge sah er sie in der Hawkforte-Bibliothek stehen, ihre Hände auf die Ohren gepresst, voller Angst vor dem Windstoß, der scheinbar aus dem Nirgendwo gekommen und heulend um die Türme gestrichen war.
Sie glaubte, ein schrecklicher Sturm hätte ihren Eltern das Leben gekostet. Vielleicht fürchtete sie den Wind nur deshalb. Nein, sogar ganz sicher, denn einen anderen Grund gab es nicht. Und diese Erinnerung vermischte sich mit allen anderen Gedanken, die ihr galten.
Nachdem er sie für sich beansprucht hatte, missfiel ihm jeder Augenblick, den er getrennt von ihr verbrachte. Sie sollte bei ihm sein, er wollte sie schützen, für sie sorgen, ihr ein Lächeln entlocken und ihr Gelächter hören.
Und er sehnte sich in heißer Begierde nach ihrem Körper.
Immer lauter toste der Wind, und Atreus seufzte. Er war müde genug, um sich vollends mit seiner Umgebung verbunden zu fühlen – so als würde ein Teil seines Ichs woandershin gleiten. Jenseits der alten steinernen Wälle, zur Küste hin, hörte er etwas, das wie ein Stimmengewirr klang. Aber als er in diese Richtung spähte, sah er niemanden. Oder war da eine Gestalt? Nur sekundenlang glaubte er, im Mondschein eine Frau zu erblicken
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