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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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gezwungen war, seinen Schülern freizugeben, weil er am Begräbnis des zweitgeborenen Sohnes des Gouverneurs teilnehmen musste, der bei seinem Vater als Schreiber tätig gewesen war. Während ich dem Master dabei half, sich für die Beerdigung fertig zu machen, erzählte er nachdenklich, dass es sich um einen besonders schlimmen Schicksalsschlag handele, da der junge Mann eine Frau und zwei Kinder hinterlasse. Der Tod habe ihn sehr schnell dahingerafft, nachdem er einen ungewöhnlich heftigen Anfall von Ruhr erlitten habe.
    Ich weiß nicht, ob meine Phantasie mit mir durchging, doch als ich später an Caleb vorbeikam, schien mir, als trage er einen Ausdruck tiefster Befriedigung auf dem Gesicht. Durch Zufall bekam ich ausgerechnet am nächsten Tag einen Brief von Makepeace, in dem dieser mir die Nachricht überbrachte, das »Geschenk« an den sonquem der Takemmy sei gut angekommen, und die squa in seinem Haushalt, nach der ich mich erkundigt hatte, erfreue sich bester Gesundheit.
    Es war das erste Mal, dass ich, abgesehen von ein paar notwendigen Worten im Alltag, nach dem Vorkommnis bei Vollmond mit Caleb sprach. Als ich ihm die Nachricht von Makepeace überbrachte, hatte ich gedacht, er würde sich freuen, spürte jedoch, dass er auf die Meinung meines Bruders nur wenig gab. »Ich wünschte, es gäbe noch jemand anderen außer deinem Bruder, der uns verbindlich versichern könnte, dass es ihr wirklich gut geht. Er ist nicht gerade ein Mann, der für seine mitmenschlichen Gefühle bekannt ist. Ich werde froh sein, Bethia, wenn du endlich wieder sicher auf der Insel bist und dich um ihr Wohlergehen kümmern kannst.«
    »Caleb, ich muss dir sagen, dass genau das vielleicht …«, hub ich an, konnte jedoch nicht weitersprechen, denn einer der kleineren Jungen rief nach mir, weil er sich einen Holzspreißel tief in die Hand getrieben hatte. Ich eilte zu ihm. Caleb seufzte und ging zu Joel, um ihm die Nachrichten von der Insel zu überbringen.
    Während die Kandidaten für die Aufnahmeprüfung noch bis in die späte Nacht büffelten und der Master sie abhörte, ging ich meiner Arbeit nach, doch insgeheim war ich unruhig. Jetzt, wo die Prüfungen immer näher rückten, hing meine Zukunft ebenso in der Schwebe wie die ihre. Ich musste allmählich eine Entscheidung darüber treffen, was ich mit der unerwarteten Freiheit anfangen sollte, die mir Noah Merry beschert hatte. Früher hätte meine Wahl auf der Hand gelegen. Ich hätte mir den stinkenden Schlamm der Gassen von Cambridge von den Stiefeln gekratzt, meine Reisekiste gepackt und eine Passage auf dem erstbesten Schiff gebucht, das in Richtung Insel fuhr.
    Die Insel rief mich. Ich sehnte mich danach, meine Sinne an ihrem Licht und ihrer Luft zu laben und meine Seele an dem dort herrschenden Frieden gesunden zu lassen. Wenn ich ihrem Ruf folgte, dann würde ich schon bald wieder nach dem vertrauten Rhythmus ihrer Jahreszeiten leben – den eisigen Wintern und den lichtdurchfluteten Sommern, dem scheuen, zögerlichen Frühling und dem schimmernden, bunten Herbst. Ich würde in der Welt der Viehweiden und Felder zur Ruhe kommen, und selbst die vertrauten schweren Arbeiten, die täglich anstanden, würden von meiner Liebe zu jenem Land erleichtert werden, auf dem ich sie verrichtete. Jenes Leben kannte ich; und ich kannte meinen Platz darin. Wenn ich ein paar Jahre im Voraus dachte, dann konnte ich mich in jedem Alter sehen. Gut, Teile des Bildes lagen noch in dichtem Nebel – so zeigte zum Beispiel der Bauer an meiner Seite nicht sein Gesicht, und die Zahl der Kinder, die an meinem Tisch saßen, schwankte –, doch die Frau in der Mitte des Bildes war klar zu erkennen wie ein Baum, der zuerst Knospen, dann Blüten und schließlich Früchte trägt. Und ich fürchtete nicht einmal das Ende, das auch bei diesen Bildern in meinem Kopf nicht ausblieb: die gebrechliche Greisin, die Hände gichtig und verformt von einem Leben in harter Arbeit, die Wangen kantig und hohl, wie sie ihren letzten Atemzug tut. Doch ich wusste auch, selbst wenn ihre eigenen Blütenblätter längst welk waren, hatte sie eine wunderbare Frucht zum Reifen gebracht: die Frucht eines Lebens, das sie für ihre Familie, ihren Glauben und für die reiche jährliche Ernte an einem solch fruchtbaren Ort gelebt hatte.
    Doch gab es noch eine andere Vision, die mir weniger willkommen, die aber unweigerlich mit der vorherigen verbunden war. Ich sah vor meinem geistigen Auge eine Tür – schwer, massiv, aus

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