Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Eures Vater repräsentieren, die Ihr durch ein so großes moralisches Vergehen nicht besudelt sehen wolltet. Doch dann denke ich an dieses Mädchen – das Ihr nicht einmal drei Monate kanntet. Was kann sie Euch denn bedeuten, dass Ihr zu ihrer Fluchthelferin wurdet? Oh, macht Euch gar nicht erst die Mühe, es zu leugnen« – ich hatte schon den Mund geöffnet, um zu protestieren – »denn sie wäre nie in der Lage gewesen, etwas Derartiges allein zu planen und in die Tat umzusetzen, und Ihr seid der einzige Mensch, dem sie wenigstens ein bisschen vertraut hat. Zwar denke ich nicht, dass die Tat an und für sich schlecht war. Ihr stand eine harte Bestrafung bevor, die sie wahrscheinlich nicht verdiente …«
»Wahrscheinlich?«, gab ich erbost zurück und entzog meine Hand seinen fest zupackenden Fingern. Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten. »Wie könnt Ihr das sagen? Dieses Kind ›verdient‹ nichts davon. Es ist Verleumdung, auch nur anzudeuten, sie …«
Er warf eine Hand in die Höhe und schüttelte ungeduldig den Kopf. »Jetzt hört mir mal zu!« Seine Stimme war ziemlich laut. Da ich es nicht gewohnt war, so heftig angegangen zu werden, verstummte ich kurz vor Überraschung.
»Ihr riskiert, Euch den Zorn von General Court zuzuziehen, indem Ihr das Wirken der Justiz untergrabt.« Sein Gesicht war noch dunkler angelaufen, als es sonst schon war. Langsam sah er aus wie ein Mohr.
»Glaubt Ihr denn wirklich, General Court wird etwas anderes als froh darüber sein, dass sie weg ist? Ihr habt übertriebene Vorstellungen bezüglich ihres beruflichen Eifers …«
»Und Ihr habt übertriebene Vorstellungen bezüglich Eurer eigenen Meinung!«
Darüber dachte ich einen Moment nach, bevor ich antwortete. Ich sah, wie das Blut in einer Ader an seiner Schläfe pochte. Die Vene war stark angeschwollen und wand sich unter der Haut wie ein Wurm.
»Ihr habt recht. Das tue ich. Da Gott beschlossen hat, mir meine beiden Eltern zu nehmen, sehe ich auch niemanden mehr über mir, dessen Ansichten über mein Betragen mehr zählen würden als meine eigenen …«
»Seht Ihr? … Was ist denn das für eine Art zu reden? Eine pflichtbewusste Ehefrau sollte doch niemals solche Dinge äußern …«
»Ihr vergesst Euch. Ihr mögt mich gefragt haben, ob ich Euch heiraten will, aber ja gesagt habe ich nicht. Und aus dem, was Ihr gerade eben geäußert habt, schließe ich, dass ich auch schlecht beraten wäre, eine solche Verbindung einzugehen. Ich denke, am besten für alle Betroffenen wird es sein, wenn wir die Uhr zurückdrehen und vergessen, dass die Frage jemals gestellt wurde.«
Ich drehte mich um und begab mich mit hastigen Schritten auf den Weg in Richtung Schule.
»Bethia!«, rief er mir hinterher. Ich drehte mich nicht um, sondern beschleunigte meine Schritte. Er rannte mir hinterher und war mit ein oder zwei langen Sätzen nah genug, um mich am Arm zu packen. Es war ein harter Griff, und diesmal konnte ich mich nicht entziehen. Sein grobes Gesicht war dem meinen ganz nah. Ich drehte den Kopf von ihm weg. Er streckte die andere Hand aus, zog mir die Haube vom Kopf und zerwühlte mein Haar, bog meinen Kopf so weit nach hinten, dass ich ihm ins Gesicht blicken musste, direkt in die tintenschwarze Tiefe seiner Augen. Seine Stimme klang leise und drängend. »Ich liebe dich«, sagte er, und dann küsste er mich.
XX
Ich will nicht vorgeben zu wissen, was mit mir passiert wäre, hätten sich meine Vorhersagen über General Court als falsch herausgestellt. Doch am Ende hatte ich mich nicht getäuscht. Kaum war das Mädchen außer Sicht, löste sich auch der Skandal in Luft auf. Von Seiten des Gouverneurs bestand kein großes Verlangen danach, die Suche nach ihr aufzunehmen. Ich wurde in der Angelegenheit nicht befragt. Selbst wenn Master Corlett die Ansichten seines Sohnes teilte, was meine Rolle bei Annes Verschwinden anging, so beschloss er, das Thema zwischen uns nicht anzusprechen. Er hatte sie schließlich nie unter seinem Dach haben wollen, und alles, was ihrem Einzug bei uns gefolgt war, hatte seine Sicht der Dinge nur bestätigt. Ein Mädchen inmitten einer Schar männlicher Schüler aufzunehmen, stiftete ebensolche Unruhe, wie eine Schlange, die man in einem Hühnerstall freiließ. Master Corlett schien vor allem erleichtert darüber zu sein, dass er die Angelegenheit hinter sich gebracht hatte. Die ganze leidige Affäre versank im Vergessen wie ein Senkblei in einem Brunnenschacht, bis auf uns drei, denen
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