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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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Anne wirklich etwas bedeutete.
    Besonders Caleb verlangte es noch immer nach Gerechtigkeit. »Es untergräbt doch jeden Glauben, dass so etwas unbestraft bleibt«, schimpfte er eines Abends, als er für mich Reisig aus dem Garten holte. »Wäre sie eine englische Jungfer, die von einem Indianer geschändet wurde, würde der Mann schon längst am Galgen baumeln.«
    Da er vollkommen recht hatte, versuchte ich gar nicht erst, ihm zu widersprechen.
    »Caleb du weißt sehr gut, was der Preis einer solchen Gerechtigkeit gewesen wäre. Ich glaube nicht, dass Anne diesem Gericht und seinen Grausamkeiten hätte standhalten können. Und hätten sie wirklich einen Namen aus ihr herausgeprügelt, glaubst du denn, ein Teufel wie der, der sich an ihr vergangen hat, hätte auch nur den geringsten Skrupel gehabt, sie zu verleumden? Sie hätte als Lügnerin dagestanden. Und selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass seine Schuld bewiesen worden wäre, hätte er den Spieß umgedreht und aus ihr eine Verführerin gemacht, deren Künsten er einfach nicht hätte widerstehen können. Ein Mann, der so in die Enge getrieben wird, ist doch zu allem fähig …«
    »Ich würde ihn dingfest machen, wenn ich könnte …«
    »Nein, Caleb. Du musst über die Sache hinwegkommen. Ich sage nicht, dass du sie vergessen sollst. Wer könnte ein solches Verbrechen vergessen? Doch lass es vorläufig einfach einmal gut sein und wende dich wieder deinen Büchern zu. Das ist das Allerbeste, was du für sie tun kannst. Leg eine erstklassige Prüfung ab, und dann wirst eines Tages vielleicht du zu denjenigen gehören, deren Wort einen Einfluss auf die hiesige Rechtsprechung hat.«
    Er schaute von der Feuerstelle zu mir hoch, wo er Brennholz gestapelt hatte. Ich sah ihm an, dass er sich kurz vorzustellen versuchte, wie denn eine solche Zukunft aussehen mochte. Doch seine Züge waren immer noch angespannt, und aus seinem Blick sprachen Kummer und Sorgen.
    »Gott weiß, wer das getan hat«, sagte ich. »Lass es nun in seinen Händen ruhen, und vertrau darauf, dass er Gerechtigkeit walten lässt.«
    »Dafür werde ich beten«, sagte er, doch seine fromme Antwort klang dumpf, wie auswendig gelernt. Er stand auf und ging hinaus in den Garten. Ich sah ihn draußen stehen und zum zunehmenden Mond hochschauen.
    Zwei Nächte später war Vollmond. Ich warf mich unruhig auf meinem Lager herum und schreckte hoch, als ich einen Schatten sah, der im Dunkeln an mir vorüberging.
    »Caleb?«, flüsterte ich.
    »Psst. Schlaf weiter.«
    Ich setzte mich auf. Der Mond schien so hell, dass ich seine Gestalt deutlich sah, doch seine Gesichtszüge waren nicht zu erkennen. Dann wurde mir klar weshalb: Er hatte sich unterhalb der Wangenknochen sein Gesicht mit Kohle geschwärzt und trug den langen, schwarzen Rock des Masters.
    »Caleb!«
    »Ruhe!«, zischte er. »Das geht dich nichts an, Bethia.« Er trat leise und unsichtbar durch die Tür hinaus in die Dunkelheit. Selbst wenn ich den Mut aufgebracht hätte, ihm zu folgen, wäre es mir nicht gelungen, denn schon im nächsten Moment war er wie vom Erdboden verschluckt.
    Ich lag aufgewühlt und schwitzend auf meiner Pritsche, während sich ein Gefühl der Ohnmacht, Beklommenheit und Hilflosigkeit meiner bemächtigte. Mein erster Gedanke war, dass Anne ihm doch den Namen des Kindsvaters verraten hatte und er nun unterwegs war, um irgendeine rohe Art von Selbstjustiz an ihm zu verüben, ein Vorhaben, das ihn wahrscheinlich selbst das Leben kosten würde. Erst nach einer Weile, während Wolken über die leuchtend helle Scheibe des Mondes zogen, die mittlerweile hoch oben an einem tintenschwarzen Himmel stand, fiel bei mir der Groschen, und ich wusste, wohin Caleb unterwegs war. Ich hatte ihm gesagt, er solle beten, und das tat er auch. Allerdings nicht unbedingt zu einem gerechten und liebenden Gott.
    Innerhalb einer Stunde war er wieder zurück, mit sauber geschrubbtem Gesicht, den entwendeten Mantel des Masters sorgfältig zusammengelegt über dem Arm. Ich sprach ihn nicht an, als er an meinem Nachtlager vorbeikam, und ich tat es auch in den nächsten Tagen nicht. Dennoch konnte ich ihm nicht in die Augen schauen, ohne dass mein Herz heftig klopfte. Doch während meine Seele so aufgewühlt war, schien seine auf einmal zur Ruhe gekommen zu sein. Der finstere Zug um seine Stirn hatte sich gelichtet, und er machte sich mit neuem Eifer an die Vorbereitungen für sein bevorstehendes Examen.
    Dann kam der Morgen, an dem Master Corlett

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