Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
frei und würde so viel Weisheit in mich aufnehmen, wie ich nur konnte. Ich fragte mich, ob Caleb meine Begeisterung in diesem Moment teilte, konnte es mir jedoch anders nicht vorstellen.
Die Luke war nur wenige Meter von Präsident Chauncys Kanzel entfernt. Ich konnte folglich durchaus den Wunsch Master Corletts befolgen und sie geschlossen halten, denn die Vorlesung war deutlich genug zu hören. Kaum hatte der Präsident begonnen, verstummte auch Goody Whitby. Ich schätze, es war einfach üblich, in der Küche so wenig Lärm wie möglich zu machen, und darüber war ich froh. Eigentlich hatte ich befürchtet, Schwierigkeiten mit dem Latein zu haben, doch an diesem ersten Morgen wandte sich Chauncy hauptsächlich an die Erstsemester und drückte sich deshalb so einfach und klar aus, dass ich ihm mit Leichtigkeit folgen konnte. Bei seiner Vorlesung an diesem Morgen ging es um die Rechtfertigung einer Ausbildung in den freien Künsten und um ihre Bedeutung für das Leben eines Pfarrers. »Und zu diesem Leben«, so sagte er, »wird wohl mehr als die Hälfte von euch in dieser Aula bestimmt sein, so Gott will. Die Gründer dieses College haben sich aufgeopfert, um das alles zu errichten, weil sie fürchteten, nur einen ungebildeten Klerus auf den hiesigen Kanzeln zurückzulassen, sobald sie diese neue Welt wieder verlassen würden. Doch wozu braucht ein solcher Pfarrer die Gedichte Ovids, die Rhetorik des Cicero oder die Philosophie des Aristoteles? Waren all diese Männer nicht Heiden, die im Sündenpfuhl des Antichristen und den Lügengebäuden des Teufels lebten? Vielleicht war das so. Wenn man ihre Zeit und ihre Herkunft kennt, könnte man dies durchaus denken.
Und doch kommt alles Wissen von Gott, der alle Dinge geschaffen hat und beherrscht. Ihr werdet in den Werken, die wir hier gemeinsam studieren werden – bei Plato, bei Plutarch, und bei Seneca –, auf viele Wahrheiten von göttlicher Moral stoßen. Diese Heiden gingen auf perfekte Weise auf die Lehren Gottes ein. Und so benutzt Gott sie auch als Werkzeuge, um den vollkommenen Lehren Jesu Christi den Boden zu bereiten.
Die freien Künste, die ihr hier studieren werdet, lehren uns alle etwas über das göttliche Denken. Sie entstammen ihm. Sie spiegeln es wider. Wir studieren keine Kunst um ihrer selbst willen, sondern um unsere Verbindung mit dem göttlichen Denken wiederherzustellen. Gottes Geist ist vollkommen, die menschliche Vernunft hingegen nicht mehr als ein blasser Schatten.
Die Griechen hatten den Begriff der Eupraxie. Für sie verkörperte er den Geist« – hier wechselte er kurz vom Lateinischen ins Griechische – »des rechten Verhaltens. Ich möchte, dass ihr diesen Begriff, Eupraxie, gut in Erinnerung behaltet, denn ich werde ihn an dieser Stelle oft erwähnen. Der ganze Inhalt eurer Studien steckt darin – das rechte Handeln, das rechte Verhalten, das Richtige zur rechten Zeit zu tun. All euer Lernen hier soll darauf abzielen, dass ihr erkennt, was richtig ist – ihr sollt lernen, die Spreu vom Weizen zu trennen und die Schafe von den Böcken zu scheiden …«
Ich hatte mir von Chauncy ein eher unvorteilhaftes Bild gemacht, doch als ich ihm jetzt lauschte, spürte ich, dass sein ungepflegtes Äußeres und sein anmaßendes Verhalten nur das unvorteilhafte Gewand eines Mannes waren, der einen großen Intellekt besaß. Außerdem schien er das besondere Talent zu haben, gewichtige Themen auf das Niveau seiner jungen Studenten herunterzuschrauben. Ich musste feststellen, dass ich nicht die geringsten Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen, obwohl ich während der ganzen Zeit in der Küche beschäftigt war und Maude dabei half, einen Nachtisch aus Grütze, Melasse und Milch zu zaubern.
Chauncy erläuterte gerade, wie man sich seiner Meinung nach am besten die Studienzeit innerhalb einer Woche aufteilen solle. Der Tag des Herrn solle dem Gebet in der Versammlung und der Ruhe dienen, doch in der darauffolgenden Woche würden die Studenten zum Inhalt der Predigten im Versammlungshaus befragt, um zu gewährleisten, dass sie daran teilgenommen und Nutzen aus ihnen gezogen hätten. Am zweiten und dritten Tag der Woche – dem Montag und Dienstag – würden sich die Erstsemester um acht Uhr morgens versammeln, um seine Vorlesungen zur Logik und Metaphysik zu hören. Um neun seien dann die Zweitsemester mit Ethik und Naturwissenschaften an der Reihe. Die Studenten des dritten Semesters würden dann um zehn Uhr Arithmetik, Geometrie und Astronomie
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