Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
bringen könnte, falls ich versehentlich einschlafe. Ich weiß, dass ich gleich mit dem Verfassen dieses Berichts aufhören muss, um keinen Ärger zu bekommen. Doch so wichtig ist das nicht. Jetzt, wo ich hier bin und mein Schicksal einstweilen besiegelt ist, empfinde ich den Druck, meine täglichen Gedanken niederzuschreiben, nicht mehr so stark. Die Whitbys sind im Bett, und ihr Sohn hat zu schnarchen begonnen. Ich schätze, der Vater bleibt so lange wach, bis der Docht meiner Flamme sicher gelöscht ist. Das werde ich jetzt tun, damit er endlich seine wohlverdiente Ruhe findet.
Anno 1715
Aetatis Suae 70
(Im Alter von siebzig Lenzen)
Great Harbor
I
Heute Morgen lag das Licht auf dem Meer, als hätte Gott einen ganzen Kelch geschmolzenen Goldes auf dunklem Samt ausgegossen.
Wie immer war ich zum Sonnenaufgang wach und habe es gesehen. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal mein Haupt zur Ruhe gebettet und die Nacht durchgeschlafen habe. Ich döse nur noch, ob nun bei Tage oder bei Nacht, in den kurzen Abständen, wenn der Schmerz abebbt und ich mir ein wenig Ruhe gönnen kann. Das dickste, weichste Federbett könnte ebenso gut nur ein harter Balken sein, so wenig kann ich mich darauf entspannen. Den Gedanken, mich zu Bett zu legen, um zu schlafen, habe ich schon vor Wochen aufgegeben, weil ich mich nicht mehr von alleine umdrehen kann und andere nicht damit belasten will, sich ständig um mich zu kümmern. Ich habe einen Stuhl mit einem Hocker davor, dazu Decken und Kissen, welche ich nach Belieben so hinlegen kann, wie ich es brauche, um das eine Zipperlein zu besänftigen und den anderen brennenden Schmerz zu lindern.
Bald werde ich sterben. Und ich brauche nicht die Trauer in den Blicken der anderen zu sehen, um das zu wissen, denn ich weiß genug über den Tod, um seine Anzeichen zu erkennen, und lese in jedem mühseligen Atemzug, den ich tue, wie hinfällig mein Körper geworden ist. Wenn eines der Kinder hereinkommt, um zu schauen, wie es mir geht, breite ich nicht mehr die Arme aus, um es willkommen zu heißen. Es sind alles liebe Kinder, die auch auf das kleinste Zeichen von mir jederzeit hereinkommen und einen oder zwei höfliche Momente lang den geliebten Kopf auf meine Brust betten würden, doch ich will ihnen den Gestank des Todes, der mich umgibt, nicht zumuten. Abgesehen davon, dass selbst die kleinste wohlmeinende Zärtlichkeit nunmehr tiefblaue Flecken auf meiner Haut hinterlässt.
Gott ruft mich zu sich, jeden Tag ein wenig mehr von mir. Er hat schon viel geholt, doch meine Sehkraft hat er mir gelassen, und dafür bin ich ihm dankbar. Noch immer sehe ich die Herrlichkeit seiner aufgehenden Sonne durch die schlierigen Fenster meines Zimmers. Ich kann den Wind beobachten, wie er das Wasser kräuselt, ich sehe den Fischadler, der sich auf Beutezug urplötzlich vom Himmel stürzt, sehe die Gewitterwolken, die sich zu dunkelroten Kissen aufbauschen. Ich sitze am Fenster, aufgestützt wie eine Puppe auf einem Bett, und schaue hinaus. Ich schaue und erinnere mich. Jetzt, wo alles andere nicht mehr da ist, ist das, was ich sehe, und das, woran ich mich erinnere, alles, was mir geblieben ist.
Gestern Abend bat ich die anderen, mir meine geschnitzte Schachtel hereinzubringen, die ich damals in Padua im Jahre meiner Hochzeit mit Samuel bekam. Es ist Ewigkeiten her, seit ich das letzte Mal hineingeschaut habe. Die Seeluft hat die Scharniere zum Rosten gebracht, und ich musste mir mit meinen steifen Händen eine Weile daran zu schaffen machen, bevor es mir gelang, sie zu öffnen. Doch die Blätter waren immer noch darin. Die ganz frühen, reines Gekritzel, zerknittert und befleckt, manche mit ein paar lateinischen Sätzen in Makepeace’ kindlicher Handschrift, die Fehler mit wütenden Strichen übermalt, bevor er das verdorbene Papier wegwarf. Dann die Blätter aus späteren Jahren, mit wenigen Worten in Elijah Corletts sorgfältiger Schrift, welche vielleicht nur wegen eines kleinen Tintenflecks oder eines nicht ganz gelungenen Federstrichs weggeworfen worden waren. Und auf jedem Blatt meine eigene Handschrift, Zeile für Zeile, vorne wie hinten.
Jetzt schmerzt meine Hand, während ich diese Zeilen zu Papier bringe, die mehr an Spinnenbeine erinnern als an Geschriebenes. Mit jedem Druck auf die Feder mahlt sich der Schmerz durch die Knochen meines Handgelenks. Doch ich muss schreiben. Jetzt, wo das Ende nahe ist, verspüre ich den Drang, die Geschichte zu beenden, die ich einst begann, vor so
Weitere Kostenlose Bücher