Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
vielen Jahren, als diese neue Welt und ich noch jung waren und noch alles möglich schien. Ich muss mein Leben niederschreiben, mein Leben, Calebs Übergang von seiner Welt in die meine und all das, was daraus wurde. Die Zeit ist kurz, doch ich bete darum, dass der, in dessen Händen mein Leben liegt, mir noch genügend Tage schenkt, damit ich diesen Bericht vollenden kann.
Es hat einen Großteil dieses Tages gedauert, bis ich all die verblichenen Schilderungen meiner Mädchenseele gelesen hatte. Oft genug musste ich innehalten, weil mich die Erinnerung bedrängte und mir Tränen in die Augen trieb, bis alles um mich herum verschwamm. Einmal jedoch gelangte ich auch an eine Stelle, an der ich laut auflachen musste – und für meine Fröhlichkeit bitter mit einem stechenden Schmerz bezahlen musste. Es waren die Zeilen, in denen mein siebzehnjähriges Ich das eigene Alter und den Tod heraufbeschworen hatte, die mich so sehr zum Lachen brachten.
Oh, du ichbezogene Gewissheit der Jugend! Gebrechliche Greisin – so schrieb sie. Gut und schön, das hatte sie immerhin vorhergesehen, doch beim Nächsten – eine wunderbare Frucht … Wieder muss ich lächeln, während ich jene Worte niederschreibe. Über reife Früchte könnte ich dem einfältigen Mädchen so manches erzählen. Von Maden und von Schimmel. Von Fäulnis und von sterblichen Überresten. Einem säuerlichen Geschmack, den man nicht mehr aus dem Mund bekommt.
Ist es denn immer so, das Ende der Dinge? Zählt denn eine Frau jemals die Körner, die sie geerntet hat, und sagt: gut genug? Oder denkt man doch immer, man hätte es noch besser machen können, wenn man sich nur mehr angestrengt hätte, wenn der Ehrgeiz größer und die Entscheidungen weiser gewesen wären? Ich lese weiter und muss wieder über dieses vor Leben strotzende junge Mädchen lächeln, über seinen Wagemut und seine Launen, und über all das, wovor es sich fürchtete.
Jetzt, wo ich mich eigentlich am allermeisten fürchten müsste, stelle ich fest, dass es nur noch wenig gibt, was mir Angst macht. Ganz gewiss nicht mein Tod; obwohl mir die Predigten eines ganzen langen Lebens auf Erden sagen, dass ich im Jenseits mit dem harten Schiedsspruch eines zornigen Gottes zu rechnen habe. Ich glaube fest daran, dass Gott nicht nur den Moment meiner Geburt bestimmte, sondern auch den meines Todes und all die Umstände meines Lebens dazwischen. Ich wünschte, ich könnte sagen, so wie die Auserwählten unter uns es gerne tun, dass ich keinen Finger rühren würde, um meine Bestimmung durch Gott zu ändern. Doch das kann ich nicht, denn es gibt vieles, was ich ändern würde, läge es in meiner Macht. Vielleicht ist das der Grund, warum Gott nicht zu mir gesprochen hat. Ich rechne nicht damit, dass mir in der wenigen Zeit, die mir noch bleibt, ein Weg zur Erlösung gewiesen wird. Während ich hier sitze, schlaflos und unter Schmerzen, wird mir bewusst, dass diese Pein vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das ist, was mich in der Ewigkeit erwartet. Und doch bin ich nicht bereit, das, was ich nicht wissen kann, zu fürchten.
Nur eines weiß ich, weil das Übermaß an Verlusten in meinem Leben es mich gelehrt hat: Es wird leichter sein, betrauert zu werden, als selbst um jemanden zu trauern.
II
Ich arbeitete ein ganzes Jahr in der Küche des Harvard College. Durch ihre dünnen Mauern wehte mir jegliche Art von Wissen entgegen. Ich lernte zusammen mit den Erstsemestern und mit den Studenten des letzten Jahres, deren Wissen von vier Studienjahren ich in mich einsog, wenn Chauncy zu einer seiner Morgenvorlesungen vor seinen Studenten stand. Damit will ich nicht sagen, dass ich alles begriff, was ich hörte; wie hätte ich das auch gekonnt? Man kann bei einem Gebäude nicht beim Giebel anfangen, wenn man noch kein Fundament gelegt hat. Vieles von dem, was Chauncy den höheren Semestern vermittelte, blieb für mich im Dunkeln. Doch ich sammelte die Wissensfragmente, derer ich habhaft werden konnte, und während ein Jahr ins Land ging, hatte sich auch in mir ein kleines Gebäude des Wissens gebildet. Zwar kam ich nicht in den Genuss der täglichen Tutorien, bei denen die Studenten das Gesagte hinterfragen konnten, doch wenn ich eine Stunde mit Samuel und seinem Vater erübrigen konnte, bestürmte ich sie mit meinen Fragen. Von ihnen konnte ich mir Bücher ausleihen, die ich auch alle las, bis die Whitbys irgendwann ihre Kerzen löschten. So erschloss ich mir den Zugang zu verschiedenen Themen.
Für Hesiod,
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