Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
unseren Füßen verborgen ist. Dann endlich fand ich unsere durchnässten Schafe. Gottes Vorsehung hatte sie heil durch den Sturm gebracht, und sie standen alle eng aneinandergedrückt im Windschatten einiger großer Felsbrocken. Keines fehlte. Andere Nachbarn hatten nicht so viel Glück. Ihre Herden waren weit verstreut, und es würde Tage dauern, sie wieder einzusammeln. Manche Schafe wurden nie gefunden, was als bitterer Verlust galt, denn diese Tiere waren immer noch selten und brachten mit ihrer Wolle gutes Geld ein. Makepeace und ich gingen den anderen zur Hand, so gut wir konnten, und waren froh darüber, beschäftigt zu sein. Am Abend aßen wir unser Brot in brütendem Schwiegen, weil sich keiner von uns traute, dem anderen seine Gedanken und Ängste anzuvertrauen.
Die Nachricht, dass das Schiff unseres Vaters gesunken war, erreichte uns erst vierzehn Tage später. Es war vollkommen auseinandergebrochen. Wrackteile waren so weit ab von seinem Kurs geborgen worden, dass wir zuerst die Hoffnung hegten, es könne sich um ein anderes glückloses Schiff handeln, und dass wir schon bald die Nachricht bekommen würden, unseres Vaters Schiff habe den Sturm überstanden und liege in einem sicheren Hafen. Doch dann erlosch auch diese kleine Flamme der Hoffnung. Durch Zufall entdeckte man nämlich die Galeonsfigur der Schaluppe inmitten des angeschwemmten Unrats, und an der Identität des gesunkenen Schiffes bestand nun kein Zweifel mehr.
Tod durch Ertrinken ist bei Inselbewohnern eine Angst, die sie nie verlässt. Doch in so kurzem Abstand gleich zwei Seelen zu verlieren, erst Solace und dann Vater, war eine schlimme Prüfung für uns. Vater war in unergründliche Tiefen hinabgesunken, während meine Solace, das arme kleine Ding, in einer Wasserlache, nur wenige Schritte von unserer Haustür entfernt, ertrunken war. Obwohl Vater ein sehr wertvoller Mensch gewesen war und sein Tod für mich wie für alle aufrechten Menschen, die ihn kannten, einen großen Verlust bedeutete, war der Tod von Solace für mich noch viel schwerer zu ertragen. Die ganze Welt trauerte um Vater, dessen Tun zu Lebzeiten von Gott gesegnet war, und viele würden sich an ihn erinnern. Solace jedoch hatte noch gar keine Spuren auf dieser Welt hinterlassen. Bei Nacht kann ich kaum schlafen, weil mir ihr winziges Gewicht neben mir im Bett fehlt. Oft höre ich sie im Dunkeln weinen und fahre erschrocken auf. Doch es ist bloß eine Stimme aus meinem Traum, und um mich herrscht nur schmerzende Einsamkeit. Auch jetzt, all die Monate nach ihrem Tod, denke ich noch an sie und stelle mir vor, wie sie wohl gewachsen wäre und sich verändert hätte. Ich sehe sie mit unbeholfenen Schritten neben mir laufen und ein speckiges Händchen nach meinen Fingern ausstrecken. Ihr Haar ist länger und umrahmt in zarten Locken ihr Gesicht. Ich stelle mir den Klang ihrer Stimme vor, während sie ihre ersten Worte spricht, sehe die kleine Furche auf ihrer Stirn, derweil sie über etwas grübelt, und das weiße Aufblitzen ihrer Milchzähne. Das wird immer so bleiben. Auch wenn die Jahre ins Land gehen, werde ich sie immer wieder vor mir sehen, wie sie heranwächst und von einem kleinen zu einem großen, süßen Mädchen wird, und auch wenn ich alt bin, werde ich sie sehen, wie sie zu einer Frau geworden ist, in deren himmelblauen Augen ein wissender, liebenswerter Ausdruck liegt, während sie ihr eigenes Kind in den Armen hält …
Und doch wird sie die ganze Zeit dabei im Boden liegen, für immer ein kleines Mädchen, dessen Leben kaum mehr als ein ganzes Jahr andauerte. In meinen Träumen kommt sie zu mir. Doch es sind Träume, die immer schlecht enden, denn dann sehe ich sie in ihrem Grab. Ich sehe die zerbrechlichen kleinen Finger, weiß und verblichen, die sich um ein zerfallendes Stückchen Pergament klammern, um eine vermodernde Holzpuppe und um eine Handvoll Perlen, die längst aus ihrer verschimmelten Lederhülle gekullert sind …
Gott zeigt sich mit Freuden in so vielen Dingen, doch wenn ich meinen Mund zum Gebet öffne, bringt mir das keinen Trost. Meine Worte sind nichts als ein Rascheln, wie die letzten Buchenblätter an einem Ast im Winter, und auch ein harter Windstoß, der durch den Wald fährt, kann sie nicht von dem Zweig fegen, an den sie sich klammern, um sie hinauf in den weiten, weißen Himmel zu heben.
VIII
In den Tagen, die der Entdeckung des Wracks folgten, spuckte die See die Leichen mehrerer verstorbener Seelen aus und spülte sie in
Weitere Kostenlose Bücher