Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
verschiedenen kleinen Buchten des Festlandes an den Strand. Keine davon war die unseres Vaters. Obwohl wir uns als Waisen fühlten, waren wir es nicht wirklich: Ohne einen Leichnam galt Vater nach dem Gesetz so lange nicht als verstorben, bis es per Gericht beschlossen wurde. Doch was auch immer im Gesetz stand, wussten wir und alle auf der Insel, dass Vater nicht mehr da war, und wir warteten nicht auf die Erlaubnis der Behörden, um um ihn zu trauern. Einige sehr bedeutende Personen ehrten ihn mit Worten. Die Bevollmächtigten der Vereinigten Kolonien äußerten sich über seinen Tod, als einen »schier unersetzlichen Verlust«. Apostel Eliot schrieb einen Brief, in dem er seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, Gott der Herr möge uns dabei helfen, »diesen schrecklichen Schlag, der meinen Bruder Mayfield hinweggerissen hat«, zu ertragen.
Auch die Gemeinde trauerte um ihren verlorenen Hirten, und zwar auf der ganzen Insel, denn sein Tod wurde nicht nur in Great Harbor beweint. Die Wampanoag beschlossen, auf mir nicht ganz nachvollziehbaren Wegen, gemeinsam und auf besondere Art meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Sobald bekannt wurde, dass er verschieden war, nahm jeder von ihnen, der auf der Insel unterwegs war, vom Strand einen dieser glatten, weißen Steine mit, die dort oft zu finden sind. Diese trugen sie so lange bei sich, bis sie an der Stelle vorbeikamen, wo Vater Abschied von ihnen genommen hatte. Dort legten sie die Steine nieder. Innerhalb nur weniger Tage war auf diese Weise ein Steinhaufen entstanden, der in den Wochen, die folgten, zu einem regelrechten Denkmal anwuchs, bei dem ein jeder Stein mit künstlerischer Sorgfalt seinen Platz fand. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er höher als ein Mensch, und noch immer kamen Wampanoag und legten ihre Steine nieder. Ich kann nicht sagen, ob sie es immer noch tun, oder in welchem Zustand das Denkmal mittlerweile ist, doch ich sehe es vor mir, weißer Schnee liegt auf den weißen Steinen, und das Schmelzwasser ist zu einem dicken Guss aus schimmerndem Eis gefroren, in dem sich die bunten Farben der untergehenden Sonne spiegeln.
In den ersten Wochen, nachdem wir davon gehört hatten, wurde es Makepeace und mir zur Gewohnheit, dort hinauszureiten und zu schauen, welche Fortschritte der Steinhaufen machte. Wir fühlten uns beide zu dem Ort hingezogen und hielten uns gerne eine Weile dort auf. Die Steine bargen eine Art innere Leuchtkraft, die je nach Tageszeit auf das wechselnde Licht der Sonne zu antworten schien. Es war ein sprechendes Grabmal, ganz anders als die stummen, grauen Grabsteine auf dem englischen Friedhof. Ich glaube, wir waren jedes Mal, wenn wir es besuchten, von neuem erstaunt darüber, wie tief es uns in unserem Innersten zu berühren vermochte.
Zwischen meinem Bruder und mir hatte sich etwas verändert, seit Solace gestorben war. Ich wusste, wie er litt, selbst seinem gewohnten Schweigen war es deutlich anzumerken. Er wiederum hatte es sich abgewöhnt, ständig irgendwelche Urteile über mich abzugeben. Ich glaube, er begriff allmählich, welch großen Kampf ich gegen den stolzen, unabhängigen Charakter ausfocht, über den er sich immer beklagt hatte, und ich denke, er begann mir damals endlich zugutezuhalten, dass ich mich redlich bemühte.
Am Anfang saßen wir schweigend vor den Steinen, doch dann begannen wir irgendwann, über Vater zu sprechen. Zunächst sagte ich nicht viel und beschränkte mich auf die frommen Allgemeinplätze, von denen ich glaubte, mein Bruder würde sie tröstlich finden. Doch eines Tages wandte er sich mir zu und fuhr sich mit der Hand durch sein spärliches Haar. (Die Büschel, die ihm ausgefallen waren, wuchsen allmählich wieder nach, doch die kurzen Stoppeln standen in alle Richtungen ab.)
»Glaubst du, der pawaaw hat Vater auf dem Gewissen?«
Ich schaute auf meine Hände und versuchte, ein leichtes Zittern zu beruhigen.
»Ich denke … ich glaube, er wollte es. Aber wir müssen doch gewiss davon ausgehen, dass es Gott der Herr ist, der uns so tragische Fügungen beschert. Vater ist nicht der erste seiner treuen Diener, den ein solch bitteres Los ereilt hat. Und dem pawaaw eine solch außerordentliche Zauberkraft zuzugestehen, wäre doch …«
»Ich glaube, er hat’s getan«, fiel mir Makepeace ins Wort. »Ich bin mir so sicher, dass er ihn getötet hat, als hätte er sein Kriegsbeil erhoben und ihm den Schädel damit eingeschlagen.«
»Aber Makepeace, denk mal darüber nach, was du da sagst. Wenn
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