Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
gesprochen hatte?«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er zu solch niederträchtigen Gedanken fähig war. Welch weitere, schändliche Wahnvorstellungen mochte er noch hegen?
»Bruder«, sagte ich, um Geduld bemüht. »Das Brunnenloch war bei weitem die größte Gefahr rings um das Haus. Er ist direkt dorthin gelaufen, weil er bei klarem Verstand war und sich daran erinnerte, während wir anderen alle zu verwirrt waren, um …«
»Da ist er wieder! Calebs verfluchter Verstand!« Er stürzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm, riss einen Goldrutenzweig heraus, der dort wuchs, und zupfte die Blüte mit brutaler Heftigkeit vom Stiel. »Ich weiß, was du denkst. Gib dir gar nicht erst die Mühe, es zu leugnen. Du glaubst, ich bin blind vor Neid. Und ich sage dir eins: Du bist diejenige hier, die blind ist. Du ebenso wie Vater. Vater war wie besessen von dem Jungen. Ich konnte es in seinem Gesicht sehen, Tag für Tag. Wie er freudig lächelte, wenn Caleb irgendeine knifflige Textpassage löste, und dann wanderte sein Blick zu mir, und das Lächeln schwand dahin. Ich konnte es ihm ansehen, dass er insgeheim darüber nachdachte, wie lange ich wohl gebraucht hätte, um so weit zu kommen. Und dann sah ich die Enttäuschung in seinen Augen.« Er blickte mich fragend an. »Wahrlich, ich hatte gedacht, die Probe, auf die Gott mich stellte, als er mir eine Schwester gab, die mir im Lernen den Rang ablief, sei hart genug gewesen. Aber wenigstens hatte Vater den Anstand, dieser Demütigung ein Ende zu bereiten. Doch nun diesen Fremden bei uns zu haben, diesen wilden Heiden, diesen, diesen … vermeintlichen Hexenmeister, der direkt aus der Wildnis kommt … kommt hierher und sitzt bei uns, und ich muss mit ansehen, wie er sich Vaters Achtung erschleicht und Vater ihm die liebevollen Blicke schenkt, die doch eigentlich mir gebührten …«
»Makepeace, du irrst. Vater hat nie …«
»Halt den Mund, Bethia«, fauchte er. »Du hast von allen Leuten am wenigsten das Recht, etwas zu sagen …«
»Ich weiß nicht, was du damit andeuten willst …«
»Glaubst du, ich habe wirklich kein Fünkchen Verstand? Ich weiß, wem du deine Zuneigung schenkst. O ja, ich sehe, dass du versuchst, das zu verbergen, weil solche ungesetzlichen Gefühle nur durch eine grässliche tierische Lust gezeugt sein können …«
»Das ist falsch!«, sagte ich und spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht schoss. »An meinen Gefühlen für Caleb ist nichts dergleichen.«
Unsere Blicke trafen sich, und ich zwang mich, ihm standzuhalten. Seine Kinnlade mahlte, und sein Gesicht wurde fleckig, doch ich wandte immer noch nicht den Blick ab.
»Nun denn«, sagte er kalt. »So täuschst du dich also noch selbst, und ich dachte, du täuschst nur andere. Dann schwebst du in noch größerer Gefahr, als ich befürchtet hatte.«
»Makepeace, ich sage dir, du irrst.«
»Schwester, du bist diejenige, die in die Irre geht, und zwar in Worten, Taten und, wie es scheint, sogar in Gedanken. Ich sehe, wie du ihn anschaust, wenn du dich unbeobachtet glaubst. Ich höre den vertrauten Ton in deiner Stimme, wenn du mit ihm sprichst und glaubst, ihr seid allein. So schaust du nicht und so sprichst du nicht, wenn es um Joel Iacoomis geht. Nicht einmal, wenn der junge Merry, dieses verliebte Mondkalb, dich anhimmelt. Nein. Diese liebevollen Blicke gelten nur Caleb. Gib es zu. Er hat dich verhext. Du bist von ihm besessen.«
»Ganz und gar nicht!« Mein Herz raste in meiner Brust, und ich konnte kaum atmen. Doch als ich sah, wie er den Mund öffnete, um weiterzureden, riss ich mich zusammen und hob eine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Nein, Bruder. Du hast wahrlich genug gesagt. Auf der Versammlung hast du dich zu Völlerei und Trägheit bekannt – am besten kehrst du dorthin zurück und fügst deiner Liste noch Neid hinzu. Denn ganz offensichtlich hat dein Neid auf Calebs von Gott gegebenen Verstand die Oberhand über deine Vernunft gewonnen. Außerdem hast du dich zu Fleischeslust bekannt. Ich kann mir nur vorstellen, dass du von deinen eigenen Begierden auf andere schließt. Ich bin unschuldig, was deine böswilligen Anschuldigungen betrifft. Gänzlich unschuldig. Meine Gefühle Caleb gegenüber sind nichts Ungewöhnliches, und deine Behauptungen, was mein Benehmen angeht, haltlos und lächerlich.« Da ich ihm die Wahrheit über meine Gefühle nicht sagen konnte – nämlich dass ich Caleb wie den Bruder liebte, der er,
Weitere Kostenlose Bücher