Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
vorhatte, fragte er nicht weiter nach, als ich ihm zu verstehen gab, dass ich nicht geneigt war, es ihm zu verraten. Hätte er mich dazu gedrängt, weiß ich nicht, wie meine Antwort ausgefallen wäre, denn was ich vorhatte, war mir selber nicht ganz klar. Ich wusste nur, dass ich ein paar Stunden frei und für mich sein wollte wie früher, vor noch gar nicht allzu langer Zeit, und wie es sicher nicht mehr möglich sein würde, wenn wir erst einmal die Insel verlassen hatten.
Ich ritt zuerst zu Vaters steinernem Denkmal und setzte mich auf meinen gewohnten, moosbewachsenen Stein. Er lag unter einer alten Buche, und das Licht, das durch die sanft bewegten Blätter fiel, warf einen Schatten auf meine gefalteten Hände, der aussah wie feine Spitze. Speckle wanderte bis zum See und ließ ihren großen Kopf hinab, um zu saufen. Mich brachte es immer zum Lächeln, wenn ich sie dabei beobachtete. Selbst nach einem harten Ritt trank sie ganz vornehm, tauchte das Maul nur ein wenig ins Wasser und schlürfte mit gespitzten Lippen, wie eine adlige Dame ihren Tee. War ihr Durst dann gelöscht, drehte sie sich um und weidete ein wenig Gras. Dabei zuckte ihr Leib, um die Fliegen zu verscheuchen, die sich darauf niederließen. Ich lauschte dem leisen Rupfen, mit dem sie sich an dem Seegras gütlich tat, hörte das mahlende Kauen ihrer Kiefer, das Summen der verscheuchten Fliegen, die nur auf die nächste Gelegenheit warteten, um sich wieder auf ihrer verschwitzten Flanke niederzulassen. Die Sonne war warm und weich, und ich reckte ihr mein Gesicht entgegen. Es dauerte nicht lang, und die Tränen begannen zu fließen. Die Stute wandte mir ihren feuchten Blick zu und legte die Ohren an, als versuchte sie herauszufinden, was mir denn fehlte. Schließlich hörte sie sogar mit dem Grasen auf und kam zu mir herüber, als wollte sie mich trösten. Ich stand auf, wischte mit den Handflächen über mein Gesicht, strich ihr beruhigend über den Rücken und stieg dann wieder auf. Mein nächstes Ziel war der Strand im Süden.
Als wir jenen langen Streifen Sand erreichten, war gerade Ebbe. Ich ritt zu der Stelle hinab, wo der Strand fest und hart war und die Wellen sich an Speckles Fersen brachen. Als sie stehen blieb, lenkte ich sie ein paar kurze Schritte den Strand hinauf, glitt aus dem Sattel, lockerte die Zügel und warf mich in den heißen Sand. Ich spürte, wie meine Haut sich zusammenzog, während die Gischt auf meinen Händen und Unterarmen zu einer weißen Kruste trocknete. Speckle senkte ihr weiches Maul und knabberte mir am Ohr. Ich spürte ihren nach Gras duftenden Atem. Sie leckte an meiner Wange, schmeckte Salz. Ein langer, glitzernder Spucketropfen löste sich und fiel auf mich. Ich setzte mich lachend auf und schubste sie von mir, wischte mir das Gesicht mit meinem nassen Rocksaum ab. Sie machte halbherzig ein paar Schritte und blieb schnaubend und ein wenig schwankend stehen.
Ich legte mich wieder hin und schloss die Augen vor dem gleißenden Sonnenschein, lauschte dem Rauschen der Brandung, das von allen Seiten an meine Ohren zu dringen schien, den heranrollenden Brechern und dem leisen Zischen, wenn die Wellen sich zurückzogen. Von Zeit zu Zeit schrie eine Möwe, laut, hoch, durchdringend.
So lag ich lange da und ließ mich treiben, ließ die Gedanken über mich hinwegziehen wie Wolken. Auf einmal wieherte Speckle leise und warf ihren Kopf nach hinten. Ich schaute zu ihr herüber, um zu sehen, was sie aufgeschreckt hatte. Ein Schatten fiel auf den Sand. Noch bevor ich mich umwandte, wusste ich, dass es Caleb war.
In jenem schimmernden, goldenen Licht sah ich den wilden Jungen, den ich vor vier Sommern hier zum ersten Mal erblickt hatte, doch er war nicht mehr wild und auch kein Junge mehr. Sein Haar war kurz und brav geschnitten, die fransenbesetzten Lederleggins durch robusten Serge ersetzt. Der Perlenschmuck war verschwunden, und die nackten, mahagonibraunen Arme steckten in bauschigem Leinen. Und doch war der junge Mann, der dort vor mir stand, nicht einfach der billige Abklatsch eines jungen Engländers. Er trug keinen Hut, keine Schuhe und keine Strümpfe, sodass seine langen Waden nackt waren. Auch hatte er kein Wams an, und das Hemd klebte schweißdurchtränkt an seiner Brust.
»Ich sah dich aus der Siedlung reiten. Ich wusste, dass du hierherkommen würdest …« Offenbar musste er sich Mühe geben, die starken Gefühle, die in ihm aufwallten, im Zaum zu halten. Eine Anstrengung, die ihn fast erbeben
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