Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Wirklichkeit war mir gar nicht bewusst, was für ein Sünder ich war, bevor er mir beibrachte, mein Haar zu hassen.« Sein Gesicht war ernst geworden, und seine Stirn zog sich finster zusammen. »So viele Dinge, die ich einmal geliebt habe, habe ich hassen gelernt. Und das alles begann hier, an dieser Stelle, mit dir, Sturmauge.«
In diesem Augenblick wandte er sich von mir ab und schaute über die Dünen, hinter denen der kleine Tümpel lag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Schließlich kreuzte er mit seiner leichtfüßigen Anmut die Beine und setzte sich im Schneidersitz in den Sand, den Blick gen Horizont gerichtet. Ohne mich anzusehen, deutete er eine kurze Handbewegung an – die gleiche knappe Geste, mit der er mir schon immer bedeutet hatte, es ihm gleichzutun. Und so ließ ich mich neben ihm im Sand nieder und schaute auf die Wellen hinaus. Wenn wir früher gemeinsam in den Anblick ein und derselben Sache versunken waren, merkte ich oft, dass wir die Dinge auf unterschiedliche Weise betrachteten. Vor langer Zeit hatte er mir zum Beispiel beigebracht, wie man einen Fischschwarm entdeckt, der tief unter der Wasseroberfläche dahinschwimmt – wie eine gewisse Veränderung in Licht und Schatten ihn offenbart und dem Fischer zeigt, wo er sein Netz auswerfen soll. Caleb war es zu verdanken, dass die See für mich kein dunkles Geheimnis mehr war, sondern eine höchst nützliche Linse, durch die man schauen konnte.
Er nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln. »Du fragst, warum ich bei euch esse, warum ich eure Gebete lerne. Warum ich lerne, all das zu hassen, was ich einmal geliebt habe. Leg dein Ohr auf den Sand. Du sollst hören aus welchem Grund.«
Ich legte verwirrt den Kopf zur Seite.
»Kannst du sie nicht hören? Stiefel, Stiefel und noch mehr Stiefel. Der Strand ächzt unter ihrem Gewicht, und es werden immer mehr. Und sie drücken uns die Gurgel zu.«
»Aber Caleb«, sagte ich. »Diese Insel – das Festland, meine ich – ist doch ein riesiges Gebiet. Es heißt, dass es genügend Platz gibt, auch wenn wir zu Tausenden und Abertausenden kommen …«
Er griff noch einmal in den Sand und schaute zu, wie die Körnchen durch seine Finger rieselten. »Ihr seid wie die hier. Jeder Einzelne für sich ist ein Nichts. Einhundert, viele Hundert – na und? Wirf sie in die Luft, und sie sind kaum mehr da. Du kannst sie nicht mal mehr finden, wenn sie auf den Boden fallen. Und trotzdem sind es mehr Körnchen, als du zählen kannst. Endlos viele. Ihr werdet euch über dieses Land ergießen, und wir werden in eurer Flut ertrinken. Eure Steinmauern, eure toten Bäume, die Hufe eurer seltsamen Tiere, die die Muschelbänke zertrampeln. Mein Onkel sieht diese Dinge, hier und jetzt. Und wenn er in Trance ist, sieht er, dass es noch schlimmer kommen wird. Eure Mauern werden überall wachsen und uns ausschließen. Ihr werdet mit euren Pflügen in diesem Land das Unterste zuoberst kehren, bis es keine Jagdgründe mehr gibt. Das und noch vieles mehr sieht mein Onkel.« Caleb schlug mit der flachen Hand auf den Sand und ballte sie dann zu einer Faust. »Aber er weigert sich auch, zu sehen, dass Gott euch Gutes tut, dass er euch beschützt und vor den Krankheiten bewahrt, gegen die mein Onkel mit seinen Kräften nichts ausrichten kann. Und das sehe ich: Wir müssen die Gunst eures Gottes erringen, sonst werden wir zugrunde gehen. Deshalb, Sturmauge, kam ich zu deinem Vater.« Seine Miene war wild und verzerrt. Ich wollte nach seiner Hand greifen, um ihm Trost zu spenden. Doch ich tat es nicht. Ich saß nur wortlos da, bis er wieder zu sprechen anhub.
»Das Leben ist besser als der Tod. Das weiß ich. Tequamuck sagt, das sei das Gewäsch eines Feiglings. Ich aber finde, manchmal ist es tapferer, sich zu beugen.«
Er wandte sich mir zu. »Deshalb werde ich jetzt auf diese Lateinschule und später ans College gehen, und wenn Gott mir zur Seite steht, so kann ich meinem Volk zunutze sein, und es wird überleben. Aber du – für dich gibt es nichts dort. Warum solltest du gehen? Du weißt sehr wohl, dass dein Bruder ein Dummkopf ist. Er wird aus dieser Ausbildung keinen Nutzen ziehen, auch wenn du deine Freiheit opferst, um sie ihm zu erkaufen.«
»Caleb«, sagte ich. »Ich gehe nicht dahin, um Großvater seine paar kostbaren Golddukaten zu retten. Ich gehe auch nicht aus Liebe zu meinem Bruder, und obwohl ich mich über seinen Erfolg freuen werde, bin ich nicht so blind zu glauben, dass
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