Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
ließ.
Ich rappelte mich auf. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass du den ganzen Weg von Great Harbor hierhergerannt bist?«
Er drehte die Handfläche nach oben, als wollte er sagen: Warum nicht?
»Aber wieso folgst du mir in diesem Zustand?« Ich hob eine Hand, um auf seine ungenügende Bekleidung hinzuweisen.
»Ich musste dich unbedingt unter vier Augen sprechen, bevor du deine Zustimmung zu dem beschämenden Plan deines Großvaters gibst. Ich hoffe aufrichtig, dass das noch nicht geschehen ist. Aber es gibt irgendwie kaum noch Gelegenheit … dich zu treffen.« An diesem Punkt war es um seine Beherrschung geschehen, und er schrie fast. »Lass dich nicht zur Sklavin machen, Sturmauge.«
Ich trat einen Schritt zurück, überrascht über seinen plötzlichen Zorn.
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst …«
»Ich hielt deinen Großvater immer für ehrenwert.« Er drehte sich um und spuckte auf den Sand. Ich zuckte erschrocken zusammen.
»Er ist ehrenwert, Caleb. Du darfst nicht …«
»Du darfst nicht! Ich habe dieses ›du darfst nicht‹ allmählich satt. Ihr Engländer verschanzt euch hinter diesem ›du darfst nicht‹, und langsam glaube ich, es ist eine trostlose Festung, in die ihr euch selbst einsperrt.«
Sein Zorn setzte auch den meinen in Brand. »Ach ja, meinst du? Kannst du mir dann erklären, was du eigentlich bei uns verloren hast, warum du bei uns Kost und Logis annimmst und unseren Unterricht noch dazu? Warum du dich unseren Büchern mit einer Inbrunst widmest, als könntest du nicht mehr atmen, ohne einen Satz auf Latein zu sprechen? Und warum hauchst du bei unseren Versammlungen so fromm unsere Gebete?«
»Ich bin nicht hierhergekommen, um über mich zu sprechen«, sagte er. »Ich weiß, was ich will. Ich kam deinetwegen hierher, weil ich begriffen habe, dass du keine Familie mehr hast, die diesen Namen verdient. Dein Vater war ein guter Mensch. Er hätte niemals seine Zustimmung zu diesem Plan gegeben. Doch dein Großvater liebt sein Gold mehr als dich. Und was deinen Bruder angeht …« Er hob scharf das Kinn, verzog verächtlich den Mund, schlug sich mit der Faust gegen die Brust. » Wir machen aus unseren besiegten und verhassten Feinden Sklaven, um uns für die Toten zu rächen oder für anderes Unrecht, das uns widerfahren ist. Wie aber kommt er auf den Gedanken, die eigene Schwester für seine Zwecke in die Sklaverei zu verkaufen?«
»Als würdet ihr nicht jede Frau in eurem otan Tag für Tag bis zum Umfallen arbeiten lassen! Ich habe gesehen, wie es bei euch zugeht. Ihr findet harte Arbeit nicht unehrenhaft, solange es eine Frau ist, die sie verrichtet.«
»Geteilte und notwendige Arbeit ist eine Sache, Sklaverei eine andere. Wenn ich dein Bruder wäre, würde ich dich nicht für niedere Frondienste verkaufen, nur damit ich selber eine Zukunft habe.«
Mir kamen, wie so oft in jener Zeit, die Tränen. »Du bist mein Bruder, Caleb. Mein Herz sagt mir das mehr als jede Eintragung in einem Geburtsregister.« Ich hob die Hand, um sie nach der seinen auszustrecken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Das Gesetz kann sagen, was es will, aber du und ich kennen die Wahrheit. Und Vater – er liebte dich wie einen Sohn. Schau dir Makepeace an, wenn du nicht dem Glauben schenken willst, was ich dir sage. Du wirst sehen, wie sehr er sich innerlich verzehrt vor Neid auf die Liebe, die Vater dir entgegengebracht hat.«
Ich sah, wie der Ärger in seinem Gesicht verblasste und seine Kinnmuskeln unter den breiten Wangenknochen sich entspannten. Er ergriff die Hand, die ich ihm halb entgegenstreckte, hob sie an und beugte den Kopf darüber: die Geste eines Gentleman, von der ich nicht wusste, wo er sie sich abgeschaut haben mochte. Ich spürte die Hitze seines Atems, den Hauch seiner Lippen. Dann ließ er die Hand los und berührte mich am Haar. Meine Nadeln waren herausgefallen, und die Strähnen hingen lose und feucht über meinen Schultern. Es reichte mir bis fast zur Leibesmitte.
Er sprach leise, fast wie zu sich selbst. »Als wir uns zum ersten Mal gesehen haben, war mein Haar sogar noch länger.« Er wickelte sich eine Strähne um den Finger und ließ sie wieder fallen, hob die Hand und strich sich damit über seinen eigenen, kurzgeschorenen Kopf. »Mag sein, dass dein Vater mich geliebt hat, wie du sagst. Aber nicht, bevor ich mein Haar abschnitt. Dieses Ziel verfolgte er mit Feuereifer. ›Meine barbarische Verunstaltung‹ nannte er es.« Das Lächeln schwand dahin. »In
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