Inselglück

etwas vorwerfen würde, denn sie ist tot. Ich hatte bisher einfach nicht die Chance, mich weit genug von den Ereignissen zu entfernen, um sie klar zu erkennen.« Er lachte traurig. »Das ist das Problem bei einer Insel.«
    »Wahrscheinlich«, sagte Connie.
    »Also, jetzt erzähl du mir von deiner Tochter.«
    »Reicht eine Leidensgeschichte nicht für einen Tag? Nein, ich würde sie dir ja erzählen, aber ich will nicht, dass du zu spät zur Arbeit kommst.«
    »Die Arbeit kann warten«, sagte Dan. Es klang, als meinte er es ernst, und Connie spürte, wie etwas Unbekanntes in ihr erblühte. Wolf war der wunderbarste Mann auf Erden gewesen, doch diese Worte – Die Arbeit kann warten – waren ihm nie über die Lippen gekommen. Allerdings hätte Wolf zu seiner Verteidigung darauf hingewiesen, dass zwischen Hochdruckreinigung und Hummerfang einerseits und der Tätigkeit eines landesweit hochangesehenen Architekten andererseits ein gewisser Unterschied bestand.
    Also gab Connie ihm innerlich in diesem Punkt recht, freute sich aber trotzdem darüber, einmal an erster Stelle zu stehen. »Ich erzähle sie dir ein andermal«, sagte sie.
    »Nein, jetzt, bitte. Sonst hätte ich das Gefühl, versagt zu haben. Als hätte ich dir deinen Höhepunkt nicht gegönnt.«
    Connie erstarrte schockiert. Hatte er das eben wirklich gesagt? Das Nebeneinander von ihr und sexuellem Genuss im selben Satz war ihr fremder, als es hätte sein sollen. Da Connie jedoch keine Aufmerksamkeit auf diese Tatsache lenken wollte, lachte sie.
    »Tut mir leid«, sagte Dan. »Das war sehr unpassend.«
    »Du hast mich kalt erwischt«, sagte sie. »Aber es gefällt mir.«
    »Gefällt mir, dass es dir gefällt.« Dan ergriff ihre Hand.
    Sie hatten noch etwa hundert Meter Strand vor sich bis zu ihren Schuhen, und sie hielten Händchen. Vor einer guten Stunde war Connie sich sicher gewesen, sie würde in Gang zehn eine Abfuhr bekommen, und jetzt das! Und Dan hatte eine sexuelle Anspielung gemacht. Connie wusste nicht, ob sie sich auf ihre Geschichte würde konzentrieren können.
    »Okay, weißt du noch, was du über dein Gefühl gesagt hast, Joe hätte Nicole gehört? Also, in meinem Fall … « Sie hielt inne. Sie war dabei, emotionales Territorium zu betreten, das sie vor Jahrzehnten hinter sich zu lassen beschlossen hatte. Warum dorthin zurückkehren? Nun, einerseits war Dan schmerzhaft ehrlich zu ihr gewesen, und sie wollte sich revanchieren. Andererseits jedoch wusste sie nicht, ob sie schmerzhaft ehrlich würde sein können. »Ich bin ungewollt schwanger geworden. Wolf und ich waren erst knappe sechs Monate ein Paar, und er lud mich für eine Woche, aus der dann zwei wurden, hierher nach Nantucket ein. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Ashlyn beim Madequecham Jam in einem Pick-up gezeugt wurde.«
    »Das darf nicht wahr sein!«, rief Dan. »Du warst beim Madequecham Jam? In welchem Jahr?«
    »Zweiundachtzig.«
    »Da war ich auch dabei«, sagte Dan. »Definitiv. Was für ein Zufall.«
    Ein Zufall, ja. Obwohl, wenn Connie jetzt daran dachte, kein so wahnsinnig überraschender. Alle Welt hatte, so schien es, an dieser Strandparty teilgenommen. Hunderte Mädchen in Bikinis und mit modischen Sonnenbrillen und Typen mit nackter Brust und knielangen Shorts waren da gewesen. Den Soundtrack lieferten Journey und Springsteen und Asia. Es gab Volleyballnetze und Hufeisen zum Werfen, und Bierfässchen in Wannen voller Eis, und Hibachi-Grills mit Hamburgern und Hotdogs, und Hunde, die Frisbees fingen und Tennisbällen nachjagten. Im Wasser wurden Huckepackwettkämpfe ausgefochten – die Connie und Wolf mühelos gewannen, weil Wolf so groß und Connie so draufgängerisch war. Die Party hatte vormittags angefangen und zog sich bis in die Nacht hinein – Feuer wurden angezündet und Gitarren gestimmt, und die Leute sangen und tranken noch mehr Bier, und das alles in Schwaden von Marihuanarauch. Pärchen verzogen sich zum Sex in die Dünen. Auch Wolf und Connie hatten in den Dünen miteinander schlafen wollen, sie aber besetzt gefunden, deshalb kuschelten sie sich auf den Rücksitz eines Pick-ups, der einem von Wolfs Freunden gehörte. An den Sex selbst erinnerte sich Connie nicht, aber andere Dinge waren ihr im Gedächtnis geblieben – insbesondere die Sterne in ihren geheimnisvollen Konstellationen, auf die Wolf sie hinwies: Schwan, Leier, Drache. Connie hatte sich wie ein winziges an der Erde klebendes Pünktchen gefühlt, ein Nichts im Vergleich zu Meer und Himmel,