Inselglück
anderen Künstler – zum Beispiel Matisse – und ihn bittet, Guernica zu vollenden. Das verstehst du doch, Connie, oder?«
Was Connie verstand, war, dass Wolf sich für Picasso hielt. Es ging also um sein Ego.
» Nicht Ego« , sagte Wolf. »Nachlass. Ich kann diese drei Gebäude fertigstellen und meine Hinterlassenschaft vervollständigen, oder ich mache die Chemo, und meine Hinterlassenschaft geht den Bach runter. Und es ist ja nicht mal gesagt, dass die Chemo mich rettet. Womöglich verkleinert sie den Tumor auf eine operable Größe, und dann bleibe ich auf dem OP -Tisch liegen.«
»Du musst Zuversicht haben«, sagte Connie.
»Ich habe die Zuversicht, dass ich die Bauten fertigstellen, dass ich mein Lebenswerk vollenden kann.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Connie.
»Ich liebe dich«, sagte Wolf.
Er liebte sie, aber nicht genug, um gegen seine Krankheit anzukämpfen. Seine Arbeit war das, was zählte. Seine Hinterlassenschaft. Das war sein Argument, doch Connie wusste, dass er im tiefsten Innern auch Angst hatte. Er mochte Ärzte nicht, er misstraute dem Gesundheitssystem, er fürchtete sich vor der Chemo, davor, dass man ihm den Kopf rasierte, den Schädel öffnete und den Tumor herauslöffelte wie Orangensorbet oder Haselnusseis. Lieber vergrub er sich in Arbeit und tat so, als ob alles okay wäre. Betäubte seine Schmerzen mit Paracetamol und später mit Morphium und hoffte, dass sein Körper sich selbst heilte. Connie war seit fünfundzwanzig Jahren mit Wolf verheiratet, aber letztlich hatte sie in dieser Angelegenheit nichts zu sagen. Es war sein Körper, seine Krankheit, seine Entscheidung. Sie konnte entweder mit ihm hadern oder ihn unterstützen. Sie unterstützte ihn.
Ashlyn war abwechselnd wütend, ungläubig und verzweifelt. Sie stürmte sein Büro, dann seine Baustellen und hielt ihm Vorträge. Sie vereinbarte einen Termin, um eine zweite Meinung einzuholen, den er einzuhalten versprach und dann in letzter Minute wegen eines Problems mit seinem Polier sausen ließ. Ashlyn stürmte das Haus und schrie Connie an.
»Du stehst einfach daneben und lässt ihn sterben!«
Siebzehn Monate später starb Wolf. Er hatte zwei seiner Projekte erledigt, und das dritte – das spektakuläre Hauptquartier der Veteranenhilfsorganisation – befand sich in der Schlussphase.
Connie fasste es nicht, dass sie im Zusammenhang mit Wolfs Tod beinahe ihr einziges Kind verloren hätte, aber tatsächlich war Ashlyn schon immer sehr emotional und kompliziert gewesen. Bei ihr hieß es: alles oder nichts; sie liebte oder sie hasste, dazwischen gab es nichts. Connie selbst war als Heranwachsende konfus, desorganisiert, lebenslustig und entspannt gewesen. Keins dieser Attribute traf auf Ashlyn zu. Ashlyn akzeptierte keine Kompromisse und machte es sich und anderen nicht leicht. Connie und Wolf hatten einmal mit einer Schulpsychologin gesprochen, die befürchtete, Ashlyn habe einen »Hang zum Perfektionismus«. Sie war acht Jahre alt, und wenn sie einen Buntstift hielt, trat auf ihrer Stirn eine Ader hervor.
Nach Wolfs Tod wurde Ashlyn regelrecht von ihrer Wut verzehrt. Sie bestand nur noch aus Wut. Und Connie bekam sie ständig zu spüren.
»Du hast ihn nicht zum Kämpfen ermutigt«, sagte Ashlyn zu ihr. »Wenn eine solche Krankheit diagnostiziert wird – die mit Sicherheit therapierbar, wenn nicht gar heilbar ist – , nimmt man den Kampf dagegen auf. Man tut, was man kann, macht alles medizinisch Mögliche, man absolviert siebzehn Runden Chemo, man tut, was nötig ist, um am Leben zu bleiben.«
»Aber du weißt doch, dass dein Vater das anders gesehen hat. Seine Arbeit … «
»Seine Arbeit!«, schrie Ashlyn. Ihre Augen blitzten auf eine Weise, die Connie ängstigte, und sie musste sich ins Gedächtnis rufen, dass ihre Tochter litt. Ihr Leben lang hatte Ashlyn ihren Vater favorisiert. Sie suchte seine Aufmerksamkeit und Liebe, als seien sie das Einzige, was zählte, und behandelte Connie oft als Feindin oder jedenfalls als Hindernis, das zwischen ihr und Wolf stand. Aber Connie war unerschütterlich geblieben, und tatsächlich war Ashlyn in ihrer Collegezeit und als Medizinstudentin zu ihr zurückgekehrt. Es hatte gemeinsame Mittagessen und Einkaufsbummel und Wellness-Wochenenden gegeben (wenn auch keine echte offene Aussprache, erkannte Connie später, keine Gelegenheit für sie, sich mit Ashlyns Gefühlsleben auseinanderzusetzen). Ashlyn war Wolf enger verbunden geblieben als ihrer Mutter, und das hatte Connie
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