Inselglück
nichts ausgemacht. Und als es darauf ankam, hatte sie erwartet, dass Wolf um Ashlyns willen einer Therapie zustimmen, dass Ashlyn ihn für sie beide retten würde.
»Dein Vater hat sich viele Gedanken gemacht«, sagte Connie, »und dann die Entscheidung getroffen, die ihm richtig erschien. Du hast doch bei deiner Arbeit sicher auch Patienten erlebt, die eine Behandlung verweigern, oder?«
»Diese Patienten waren aber nicht mein Vater.«
Na gut. »Ich habe deinen Vater sehr geliebt, das weißt du. Ich habe beschlossen, seine Entscheidung zu respektieren, weil ich ihn liebte, aber kannst du dir nicht vorstellen, wie schwer das auch für mich war? Glaubst du nicht, dass ich es kaum ertragen habe, ihn sterben zu sehen?«
»Er hat sich für seine Arbeit entschieden«, sagte Ashlyn. »Nicht für dich, nicht für mich.«
»Er hatte Angst vor Krankenhäusern«, entgegnete Connie. »Er mochte sich nicht einmal ein Heftpflaster aufkleben. Ich konnte ihn mir nicht an vierzig Geräte angeschlossen vorstellen, an Schläuche, die ihn mit Gift vollpumpen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er auf einem Tisch festgeschnallt ist, während man ihm den Schädel aufsägt.«
»Er hätte es getan, wenn er uns geliebt hätte«, sagte Ashlyn.
»Das stimmt nicht«, widersprach Connie. »Er hat uns geliebt. Er hat mich geliebt, und er hat dich geliebt.«
»Klar, aber weißt du, wie es sich für mich anfühlt?« Ashlyn hatte so heftig geweint, dass die Halbmonde unter ihren Augen gerötet und ihre Nasenlöcher wund und rau waren. Solch helle Haut, solch helle Haare, helle Augen. Ashlyn wirkte zart und zerbrechlich, und wenn Leute sie zum ersten Mal sahen, nahmen sie immer an, sie sei sanft und weich, doch sie irrten sich. Sie war ein Kraftpaket, willensstark und entschlossen. Schon bei der Geburt hatte sie unbedingt hinausgewollt. »Es fühlt sich an, als hätte er mich abgeschrieben. Wegen Bridget – «
»Schatz!«, sagte Connie. Nein!
»Er hat mich abgeschrieben, weil es keine große Hochzeit geben würde, keinen Investmentbanker als Schwiegersohn, keine Enkel. Und du hast es zugelassen.«
»Ashlyn, hör auf! Seine Entscheidung hatte damit überhaupt nichts zu tun.«
»Achtundzwanzig Jahre lang habe ich darum gekämpft, dass ihr stolz auf mich seid. In der Schule, am College, als Medizinstudentin – «
»Wir sind stolz auf dich – «
»Aber ich kann nichts für meine Gefühle. Ich kann nichts dafür, dass ich bin, wie ich bin – «
Connie hatte versucht, Ashlyn davon zu überzeugen, dass Wolfs Entscheidung einfach nur seine Entscheidung gewesen war, eine äußerst egoistische, ja. Aber er hatte nach seinen eigenen Maßstäben leben und sterben wollen. Das hatte nichts mit Ashlyn oder deren Beziehung zu Bridget zu tun, obwohl es wegen des Zeitpunkts so aussehen mochte.
»Doch!«, sagte Ashlyn. Sie beharrte auf ihrer Meinung und wütete gegen Connie, und Connie verspürte selbst einen Anflug von Wut, auf Wolf, der sie alleingelassen und diesem Wüten ausgesetzt hatte. Schließlich hatte auch sie ihn verloren. Auch sie litt. Connie hätte sich zurückhalten sollen – sie kannte ihre Tochter lange genug, um das zu wissen – , aber trotzdem sagte sie: »Du glaubst, Daddy wollte nicht kämpfen, weil er herausgefunden hat, dass du lesbisch bist? Weißt du, wonach das für mich klingt, Ashlyn? Das klingt nach regelrechtem Selbsthass.«
Ashlyn langte über den Tisch, um Connie zu ohrfeigen, doch Connie packte ihre Hand und hielt sie fest. Immerhin war sie Veronica O’Briens Tochter. »Schließ Frieden mit dir, Ashlyn«, sagte sie, »dann wirst du auch mit der Entscheidung deines Vaters Frieden schließen können.«
Connie bereute nichts von dem an diesem Tag Gesagten, nur das, was sie später geäußert hatte, nach der Beisetzung. Und sie bereute es, nicht mehr getan zu haben, als Ashlyn in den Aston Martin gestiegen war. Sie hätte sich vor den Wagen werfen müssen. Sie hätte ihr nachjagen sollen.
Von Jake und Iris hatte Connie erfahren, dass Ashlyn jetzt in einem Krankenhaus in Tallahassee arbeitete. Sie war mit Bridget dorthin gezogen. Jake und Iris behaupteten, nur sporadisch von Ashlyn zu hören, und versprachen, Connie zu informieren, wenn sie wichtige Neuigkeiten hätten. (Der Hauptgrund für Connies Abneigung gegen Iris war der, dass Iris mehr über ihre Tochter wusste als sie selbst.) Connie rief weiterhin jede Woche auf Ashlyns Handy an und wurde jede Woche mit der Mailbox abgespeist.
Der Anruf, der an dem Tag
Weitere Kostenlose Bücher