Inselkönig
Große
Jäger sich auf die Suche nach der Quelle des Klingelns machte. Während seiner
Abwesenheit herrschte gebanntes Schweigen im Raum.
Kurz darauf kehrte der Oberkommissar zurück und schwenkte
einen Plastikbeutel, in dem ein Mobiltelefon eingetütet war.
»Ist das Thies Nommensens Handy?«, fragte Große Jäger.
»Ja«, beantwortete der junge Frederiksen die Frage.
Seine Schwiegermutter warf ihm einen bösen Blick zu.
»Judas«, zischte sie.
»Wer hat am Nachmittag bei Ute Hoogdaalen angerufen?«,
fragte Christoph und sah den alten Frederiksen an.
»Sie.« Er zeigte auf Telse Nommensen.
»Lügner«, fauchte die Frau zurück.
»Das werden wir feststellen«, fuhr Christoph
dazwischen. »Ich nehme an, Ute Hoogdaalen wird ihre Falschaussage nicht länger
aufrecht halten.«
»Die lügen alle!« Telse Nommensen hatte ihre bisher
zur Schau getragene Gelassenheit verloren.
»Wusste Ute Hoogdaalen von Ihrem Plan, Thies Nommensen
zu ermorden?«
Ingwer Frederiksen schüttelte müde den Kopf. »Nein.
Die Hoogdaalens hatten keine Ahnung.«
»Warum hat Frau Hoogdaalen Ihnen ein falsches Alibi
gegeben, indem sie behauptete, Thies Nommensen habe bei ihr angerufen und Sie
verlangt?«
Frederiksen knetete seine schwieligen Hände. »Es gibt
viele, die Nommensen den Tod gewünscht haben. Und die Familie Hoogdaalen hatte
triftige Gründe.«
Alle sahen Telse Nommensen an, die vernehmlich
seufzte, bevor Ingwer Frederiksen fortfahren konnte.
»Thies hat den beiden übel mitgespielt.«
»Sie meinen die Behauptung, Frerk Hoogdaalen habe
seine Tochter im Suff gezeugt. Deshalb würde das Kind am Downsyndrom leiden.«
Als wäre die Nennung der Krankheit ein Reizwort
gewesen, fing Bente Frederiksen hemmungslos an zu weinen. Sie wurde von
regelrechten Krämpfen geschüttelt.
»Musste das sein?«, fuhr ihr Mann Christoph an. »Das
ist zu viel für meine Frau. Sie sehen doch, wie schlecht es ihr geht.«
»Das war eine der üblichen Boshaftigkeiten
Nommensens«, setzte der alte Frederiksen seine Erklärung fort. »Sie haben
selbst festgestellt, dass ich einen intensiven Kontakt zu Hoogdaalens pflege.
Wir teilen schließlich das gleiche Leid. Ihre Tochter und mein Enkel. Beide
sind am Downsyndrom erkrankt. Und Thies Nommensen hat die Kinder und ihre
Eltern in widerwärtiger Weise verspottet.«
»Vater, hör auf«, schrie Bengt Frederiksen dazwischen.
»Du zerstörst hier unser aller Leben.«
»Die sind kaputt, Bengt«, erwiderte der alte
Frederiksen müde. »Schon lange. Schon seit Jahrzehnten.« Er drehte sich in
Christophs Richtung. »Ich habe mein Lebenswerk verloren, meinen Betrieb, weil
meine Frau mich verlassen hat. Sie wissen, dass ich danach anfing zu trinken.
Innerhalb kurzer Zeit war alles weg. Den Bach runter. Heute bin ich trocken,
aber ohne Chance, jemals wieder auf die Beine zu kommen. Ich vegetiere dahin.
Sie haben meine Notunterkunft gesehen. Und ich durfte ein Leben als geduldeter
Handlanger des Mannes fristen, der alles zerstört hat. Und Telse hatte
versprochen, mich da herauszuholen, wenn Thies’ Platz frei sein würde.«
»Du bist ein verlogenes Subjekt, Ingwer.« Sie zeigte
mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christoph. »Sie glauben ihm doch nicht. Er
will mich fertigmachen, wenn er behauptet, ich habe ihn angestiftet.«
Der alte Frederiksen ließ den Kopf sinken. Er hatte
resigniert.
Christoph sah Telse Nommensen eine Weile nachdenklich
an. »Bei unserem zweiten Gespräch am Abend haben Sie gesagt, Sie hätten Ihren
Anteil am Leben erhalten. Was haben Sie damit gemeint?« Über diese Aussage
hatte Christoph damals gerätselt.
»Das soll ich gesagt haben? Offensichtlich haben Sie
etwas missverstanden«, antwortete Frau Nommensen mit kühler Stimme. Sie hatte
sich wieder in der Gewalt.
»Du schenkst mir das, was mir Thies versagt hat. Genau
das hat sie mir immer erzählt. Und ich habe es geglaubt.« Ingwer Frederiksen
schüttelte seinen Kopf. »Sie wissen jetzt, was mich mit den Hoogdaalens
verbindet. Die Kinder mit dem Downsyndrom. Oluf ist mein einziger Enkel. Der
Spott und die Beschimpfungen durch Thies Nommensen waren unerträglich. Ekelhaft.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Reicht das, um einen Mord zu begehen?«, fragte Große
Jäger. Niemand, der den Oberkommissar nicht kannte, hätte ihm eine so
einfühlsame Stimmlage zugetraut.
»Nein, da ist noch mehr …«, setzte Frederiksen an,
wurde aber durch ein schrilles Kreischen Telse Nommensens unterbrochen.
»Du seniler Nichtsnutz, du
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