Inselkönig
das Schienbein gekratzt. Ich habe mich
später, als ich die Puzzlesteine des ganzen Falls zusammensetzte, gefragt: Warum?«
Frederiksen hatte seine Unterschenkel freigelegt.
Deutlich waren am linken Schienbein blaue Flecke und Schürfwunden zu erkennen.
»Nommensen hat sich gewehrt, als er begriffen hatte,
was mit ihm geschah. Und da Sie nah vor ihm standen, hat er Sie getreten und am
Schienbein erwischt. Das ist eine äußerst empfindliche Stelle, und es war
schmerzhaft. Nun könnte man meinen, aus Wut darüber hätten Sie mit einem herumliegenden
Knüppel zurückgeschlagen und Nommensen deshalb die Kniescheiben zertrümmert.
Nein! Dann hätten die Verletzungen anders ausgesehen. Sie haben zuerst die
Hosen heruntergezogen und dann zugeschlagen. Das war wohlüberlegt und eiskalt.«
Bente Frederiksen war leichenblass geworden. Sie hatte
die Hand ihres Mannes ergriffen und krallte sich darin fest, dass er mit einem
leisen Schmerzenslaut seine Hand zurückziehen wollte. Selbst die sonst so
beherrscht wirkende Telse Nommensen würgte.
»Laien haben keine Vorstellung davon, wie weit die
Kriminaltechnik heutzutage gediehen ist. An Thies Nommensens Stiefelspitze
werden sich mit Sicherheit Mikrofasern von Ihrem Hosenstoff finden lassen. Das
wird als weiteres sachliches Indiz gegen Sie verwendet werden.«
»Wir haben auf diesem Gebiet einen Kollegen, der zu
den Besten seines Fachs gehört«, ergänzte Große Jäger und fügte kaum
verständlich hinzu: »Obwohl er aus Flensburg kommt. Und auch wenn er ewig
erkältet ist, hat er eine hervorragende Spürnase.«
»Außerdem haben wir noch den Koffer, und die Spuren an
dem sprechen Bände. Wann haben Sie ihn das letzte Mal in Händen gehalten?«
»Noch nie«, sagte Frederiksen leise. Er war förmlich
in sich hineingefallen und saß zusammengesunken auf dem Sofa. Telse Nommensen
war unmerklich immer weiter von ihm weggerutscht, sodass sich jetzt eine
deutliche Distanz zwischen den beiden aufgebaut hatte.
»Wie konntest du uns das antun?«, sagte sie. Abscheu
lag in ihrer Stimme. »Ingwer! Wir waren deine Familie. Du hast unser aller
Vertrauen missbraucht. Besonders meins.«
»Aber Telse«, erwiderte der alte Frederiksen. »Das war
doch für uns.« Er griff zaghaft nach ihrer Hand, aber sie zog sie vorher weg
und legte sie in ihren Schoß.
»Schämst du dich gar nicht? Du willst doch keinem von
uns vorwerfen, dass wir uns den Tod unseres Vaters oder Mannes gewünscht haben?
Wie kannst du nur.«
Frederiksen sah aus rot umränderten Augen nacheinander
die anderen Mitglieder der Familie an. »Ihr alle habt unter Thies gelitten.
Jeder von euch hat sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass er das Zeitliche
segnen sollte. Gebt es doch zu. Jeder! Alle haben mit dem Gedanken gespielt,
ihn zu ermorden. Und ich habe es getan. Für euch. Für die anderen. Da draußen.
Für viele auf der Insel. Und jetzt? Wollt ihr mich alleinlassen? Ja? Den dummen
alten Ingwer?«
Frederiksen war immer lauter geworden. Hektisch
blickte er um sich. Der Speichel troff ihm unbemerkt aus dem Mundwinkel.
»Gebt es zu. Jeder hat es gewusst. Ihr habt doch alle
mitgemacht und gehofft, dass es niemals ans Tageslicht kommt. Bloß nichts der
Polizei erzählen. Die bekommen nichts raus, wenn wir alle schweigen. Das habt
ihr gesagt. Oder?«
»Ingwer, du bist verwirrt. Du redest dummes Zeug. Ich
verstehe, dass du so sprichst. Du möchtest deine Haut retten. Aber du hast dich
versündigt. Niemand darf einem anderen Menschen ein Leid zufügen. Du sollst
nicht töten. Hast du das Gebot unseres Herrn vergessen, Ingwer?«
Für einen Augenblick schien es, als würde Frederiksen
vor Telse Nommensen ausspeien wollen. »Wie kann man nur so scheinheilig sein?«
Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wo habe ich meinen
Verstand gelassen? Ich habe dich geliebt, Telse. War das ein Irrglaube?«
»Nein, Ingwer. Du hast Trost gesucht. Den habe ich dir
gegeben. Von Liebe war nie die Rede.«
»Es klang aber so, als hätten Sie ein Verhältnis
miteinander gehabt«, mischte sich Christoph ein. »Sie«, dabei sah er Telse
Nommensen an, »haben gesagt, Sie hätten alles und würden nichts vermissen.«
»Das missverstehen Sie. Damit meinte ich Wohlstand und
materielle Absicherung sowie eine anerkannte Stellung im sozialen Leben. Sie
dürfen das nicht mit der Befriedigung niederer Instinkte verwechseln.«
»Aber … Telse!« Ingwer Frederiksen war sichtlich
erregt. »Es tut mir leid«, wandte er sich an seinen
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