Inselkönig
im
Ernst, dass mein erster Gedanke ist, wer sich um das geschäftliche Erbe
kümmert? Das muss in Ruhe bedacht werden. Da wird sich eine Lösung finden.«
»Bengt Frederiksen scheint das anders zu sehen. Er hat
sich bereits heute intensiv mit den Dingen auseinandergesetzt.« Christoph
überlegte einen Moment, ob er vom aufgebrochenen Aktenschrank berichten sollte,
entschied sich aber doch dagegen.
»Er ist vom Ehrgeiz zerfressen. Der Junge ist nicht
dumm, aber er kann seine Energie nicht richtig lokalisieren. Sein Examen war
gut, aber an der Umsetzung des Wissens in die Praxis hapert es noch.«
»Warum hat Ihr Mann sein Studium gefördert? Waren es
die familiären Bande? Oder sah er in Bengt seinen potenziellen Nachfolger?«
Telse Nommensen war überrascht und konnte dies auch
nicht verbergen. »Woher wissen Sie davon?«, fragte sie. Es klang rhetorisch, und
Christoph verzichtete auf eine Antwort.
»Thies hielt Bengt für förderungswürdig. Die Mutter
war weg – der Vater hatte geschäftlich Schiffbruch erlitten … Ohne Thies’
Unterstützung wären Bengts Talente versiegt.«
»Hat er Ihre Tochter aus Dankbarkeit geheiratet? Oder
war es kalte Berechnung, weil er sich den Zugriff auf das Erbe erhoffte?«
Telse Nommensen strich sich mit beiden Händen übers
Gesicht, dann rieb sie sich mit den Knöcheln die Augen.
»Ist es Ihr Beruf, der immer nur das Böse im Menschen
vermutet? Es war Liebe. Wirkliche Liebe. Für meine Tochter gab es nur den
einen. Bengt und Bente.« Es klang wie eine Meditation, als sie die beiden Namen
aufzählte. »Ich habe diese Ehe nicht gutheißen wollen, aber Bente ist abhängig
von meinem Schwiegersohn. Es fällt einer Mutter schwer, zu sagen, dass sie ihm
hörig ist. Das liegt bestimmt auch an Fehlern, die ich in ihrer Erziehung
begangen habe. Meiner Tochter wurden alle Wünsche erfüllt.«
»Wie stand Ihr Mann zu dieser Ehe?«
»Wie alle Väter. Er hat seine Tochter über alle Maßen
geliebt. Er hätte ihr nie einen Wunsch abschlagen können.«
Sie reckte sich, verschränkte die Hände hinter dem
Nacken und machte ein paar angedeutete Dehnübungen. »Ich würde Sie jetzt bitten
zu gehen. Es war ein Tag, der seinen Tribut gefordert hat«, sagte Telse
Nommensen. Es klang nicht wie eine Bitte, es war eine Aufforderung.
Der Rugstieg endete als Sackgasse vor dem kleinen
Wäldchen, das sich als schmaler Streifen durch die Stadt schlängelte. Die
Bewohner der Gegend nutzten den Weg durch die rustikale Anlage, um Besorgungen
im Zentrum zu erledigen. An der Einmündung zum Berliner Ring standen mehrere
Wohnblocks in der für Norddeutschland typischen Rotklinkerbauweise. Die
uniformen Häuser mit dem Flachdach waren zweigeschossig. Fast alle Wohnungen
waren hell erleuchtet.
»Wer verlässt bei solchem Wetter freiwillig die warmen
Räume?«, fragte Christoph halblaut vor sich hin murmelnd.
»Zum Beispiel die dumme Polizei«, erwiderte Große Jäger,
der den kurzen Weg vom Parkplatz, der direkt vor dem Haus lag, bis zum Eingang
genutzt hatte, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Und wenn Thies Nommensen
wirklich so schlau war, wie man uns erklärt hat, dann dürfte der auch nicht
freiwillig zur Vogelkoje gegangen sein, um sich dort die Hose
herunterzuziehen.«
Nachdem der Schneefall aufgehört hatte, war wieder die
Umgebung zu erkennen. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein
Kindergarten, direkt daneben eine Telefonzelle. Sie stach Christoph ins Auge,
weil es noch eine alte Zelle im vertrauten Gelb war. Ob das symbolisch dafür
stand, dass auf den Inseln und Halligen die Uhr nachging? Christoph machte
Große Jäger auf das Relikt aus vergangenen Zeiten aufmerksam.
»Was machst du, wenn auf der Welt eine große Seuche
ausbricht? Oder eine andere Katastrophe unsere Erde überrollt?«, fragte der
Oberkommissar zwischen zwei Lungenzügen.
Christoph zuckte die Schultern.
»Dann solltest du nach Nordfriesland fahren. Da bist
du sicher, weil hier alles dreißig Jahre später kommt.«
»Dieses Geheimnis musst du für dich behalten, sonst
entdecken womöglich noch mehr Menschen unser Paradies am Ende Deutschlands.«
»Was heißt am Ende? Wir sind in Deutschland ganz oben.
Absolute Spitze. Uns kann keiner mehr toppen«, feixte Große Jäger.
»Das lässt du sein«, beschied ihm Christoph, als der
Oberkommissar noch einmal an der Kippe zog, sie fortschnippte und nach der
Packung angeln wollte, um sich die nächste anzuzünden. Christoph warf einen
letzten Blick auf die brusthohen
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