Inselkönig
erklärte Christoph von sich aus, ohne sie näher zu erläutern. Telse
Nommensen sah ihn an, ohne darauf einzugehen.
»Darunter ist eine etwas heikle Spur. Es geht um eine
junge Frau, die behauptet, Ihrem Mann nahegestanden zu haben.«
Telse Nommensen nickte geistesabwesend. »Wenn in der
Zwischenzeit nicht ein neuer Name aufgetaucht ist, meinen Sie sicher Inga
Matzen.«
»Sie wussten davon?«
Sie betrachtete Christoph wie einen Menschen, dem die
Unwissenheit ins Gesicht geschrieben stand. »Haben Sie eine Vorstellung davon,
wie groß Föhr ist? Man sagt hier: Der liebe Gott sieht alles – der Insulaner
spricht über alles. Für uns Einheimische gibt es nichts Schöneres als den
Tratsch. Ist Ihnen aufgefallen, was ich gesagt habe?« Sie versuchte, bei den
beiden Polizisten eine Reaktion abzulesen, bevor sie erklärte: »Ich habe
gesagt: Für uns . Ich nehme mich da nicht aus.« Dann fuhr sie sich mit
gespreizten Fingern durch ihr Haar. »Warum sollten ausgerechnet mir Thies’
Eskapaden verborgen bleiben? Für manche Mitbürger gab es nichts Lustvolleres,
als mir von den neusten Liebschaften zu erzählen. Und weil selbst ein Mann von
hoher Virilität wie meiner nicht so häufig fremdgehen kann, wie manche es
glaubhaft machen wollten, fanden sich auch zahlreiche Lügengeschichten
darunter.« Sie winkte ab. »Irgendwann ist es Ihnen gleich.«
»Das ist eine bemerkenswerte Haltung«, sagte
Christoph.
»Was sollte ich machen? Thies verlassen? Mit meiner
Tochter ein eigenständiges Leben aufbauen? Thies hat mich auf diese Insel
geholt. Ja, es war Liebe. Ich bin ihm nur zu gern gefolgt. Ich habe mein
eigenes Leben aufgegeben, meinen Beruf als Grundschullehrerin kaum ausgeübt.
Was hätte ich machen sollen?«
»Hatten Sie nie das Bedürfnis, über die materielle
Absicherung hinaus ein selbstständiges und erfülltes Leben zu führen?«
Christoph beobachtete schon eine ganze Weile ihre Körpersprache,
die Vielzahl der Gesten, mit denen sie ihre Ausführungen unterstrich oder die
Pausen ausfüllte, um ihre Gedanken zu ordnen und eine wohlformulierte Antwort
zu suchen. Jetzt drehte sie ihren Ehering.
»Zeigen Sie mir den, der behauptet, ich wäre nicht
glücklich gewesen. Die Ansprüche ans Leben sind bei uns Menschen höchst
unterschiedlich. Und wer sagt, ich hätte meinen Anteil nicht abbekommen?«
»Können Sie mir das näher erklären?«
Sie musterte Christoph lange, dann sagte sie mit
Entschiedenheit: »Nein!«
»Sie waren also die tolerante Ehefrau und haben die
außerehelichen Beziehungen Ihres Mannes geduldet.«
»Es waren nie Beziehungen. Ich würde es eher
biologische Ausflüge nennen. Das mag den Frauen nicht behagt haben, die sich in
den meisten Fällen mehr davon versprochen hatten. Sie waren nur Gegenstand des
evolutionär bedingten Dranges des Mannes, seine Gene weiterzugeben.«
»Das ist eine sehr prosaische Umschreibung dafür, dass
Ihr Mann sein Ding überall reingehängt hat«, konnte sich Große Jäger nicht
verkneifen zu sagen.
Telse Nommensen strafte ihn mit einem herablassenden
Blick ab. »Die Frauen haben selbst Schuld, wenn sie der Auffassung sind, beim
Fremdgehen wäre Liebe im Spiel und nicht ausschließlich Momente der Lust.«
»Waren Sie nie in Sorge, dass Ihr Mann nicht doch auf
eine Frau hätte stoßen können, für die er plötzlich Sympathie hätte empfinden
können?«
»Sie haben in Ihrem Satz eben sehr viel ›Wenns‹ und
›Hättes‹ benutzt. Ist das nicht Erklärung genug?«
»Wir haben Anhaltspunkte dafür, dass Ihr Mann sein
bisheriges Leben aufgeben und ein anderes beginnen wollte, weit außerhalb
seines bisherigen Lebenskreises.«
»Nehmen Sie das nicht für bare Münze«, erwiderte Telse
Nommensen. Die Antwort kam Christoph zu schnell. Außerdem hatte er in ihren
Augen zum ersten Mal ein leichtes Flackern entdeckt.
Konnte es sein, dass Inga Matzen sich in eine
romantische Wunschvorstellung verstiegen hatte, als sie davon sprach, ein neues
Leben mit Thies Nommensen zu beginnen? Es gab noch andere Stimmen, die es für
absurd hielten, dass Nommensen sein Königreich freiwillig verlassen hätte. Sie
mussten diesen Aspekt noch einmal ausführlich beleuchten, nahm Christoph sich
vor.
»Sie haben heute Morgen sehr zögerlich reagiert, als
Ihre Tochter vorschlug, die Geschäftsführung vorübergehend Ihrem Schwiegersohn
zu übertragen.«
»Sie haben mir vor wenigen Stunden die Nachricht
übermittelt, dass mein Mann gestorben ist. Durch fremde Hand. Erwarten Sie
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