Inseln im Netz
Sie hin.« Er stieß Ali mit dem Ellbogen vom Rücksitz, machte eine einladende Gebärde zu Laura. »Steigen Sie auf, Madam! Fangen Sie an zu treten!«
Sie trat in die Pedale und fuhr aus dem Hafen und einen Kilometer die Trafalgar Street hinauf. Dann öffneten sich die Schleusen des Himmels, und der Regen kam in unglaublichen Sturzbächen herunter. An einer Straßenecke hielt sie an und zog einen Plastikregenmantel aus einem Verkaufsautomaten.
Angestrengt tretend, fuhr sie die Anson Road hinauf, dampfend in ihrer billigen Plastikhülle. Wasser sprühte von den Rädern, der prasselnde Regen tanzte auf Gehsteigen und Straßen und gurgelte in reißenden Strömen durch die makellosen, abfallfreien Rinnsteine.
Am Hafen gab es noch ein paar alte Gebäude aus der Kolonialzeit: weiße Säulen, Veranden und Balustraden. Doch in dem Maße, wie sie sich dem Stadtzentrum näherten, begann die Stadt in die Höhe zu schießen. Die Anson Road wurde zu einer engen Schlucht in einem Gebirge aus Stahl, Glas, Beton und Keramik.
Es war wie die Innenstadt von Houston. Aber mehr als Houston zu werden den Mut hatte. Es war ein brutaler Angriff auf jedes vernünftige Gefühl für Größenverhältnisse. Alptraumhafte Turmhäuser, deren massige Fundamente ganze Blocks einnahmen. Strebebogen und verglaste Schnellstraßen schwebten Hunderte von Metern über dem Meeresspiegel. Die Staffeln der Geschosse erhoben sich lautlos und traumartig, die Gebäude waren so gewaltig, daß sie aus der Ferne schwerelos wirkten; sie hingen wie Wolkengebirge über der Erde, die Gipfel verschwimmend im stahlgrauen Dunst.
Der Junge wies ihr den Weg von der Straße durch die automatischen Türen einer Einkaufspassage. Der kühle Luftstrom einer Klimaanlage blies auf sie herab. Sie fuhr vorüber an Textilgeschäften, Videoläden und unheimlich aussehenden ›Gesundheitsstudios‹, die Blutwäsche zu herabgesetzten Preisen anboten.
Sie fuhren etwa anderthalb Kilometer durch gekachelte Verbindungstunnels, deren Wände mit grellen, sinnverwirrenden Plakaten bepflastert waren, leere Rampen hinauf und hinunter, und einmal hielten sie vor einem Aufzug. Sechsunddreißig stellte seine Rikscha auf die Hinterräder, schob den Vorderteil zusammen und zog das Gefährt wie einen Gepäckkarren hinter sich her.
Die Einkaufspassagen lagen nahezu verlassen; gelegentlich ein Restaurant oder Cafe, in denen nüchterne, gepflegt aussehende Gäste unter leblos stilisierten Wandgemälden von kreisenden Möwen und Blumenarrangements schweigend ihre Salate aßen. Einmal sahen sie Polizisten, Singapurs Elite, in makellos gebügelten blauen Gurkhashorts, mit meterlangen Bambusstöcken.
Laura wußte nicht mehr, wo die Erdoberfläche war; es schien hier beinahe belanglos.
Sie kreuzten einen Fußgängerüberweg. Eine Etage unter ihnen lungerte eine Fahrradbande halbwüchsiger Chinesen mit geölten Stirnlocken, gestärkten weißen Seidenhemden und verchromten Rädern an einer Kreuzung. Sechsunddreißig, der es sich mit hochgelegten Füßen auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte, richtete sich auf und schrie ihnen etwas zu. Die Zurufe begleitete er mit einer Anzahl geheimnisvoller Gebärden, deren letzte unverkennbar obszön waren.
Er lehnte sich wieder zurück. »Treten Sie schnell«, drängte er Laura. Die Jungen im Untergeschoß teilten sich hastig in Jagdgruppen auf.
»Lassen Sie mich treten«, sagte Sechsunddreißig. Laura warf sich keuchend auf den Rücksitz. Sechsunddreißig stand in den Pedalen, und das Dreirad sauste davon wie ein verbrühter Affe. Sie nahmen die Ecken auf zwei Rädern, überquerten den Singapur River Hunderte von Metern über dem Boden in einer verglasten Brücke, wo es Imbißstände und Münzferngläser gab. Der kleine Fluß, angeschwollen von tropischen Regenfällen, wälzte sich hoffnungslos in seinem betonierten Bett dahin. Etwas an dem Anblick deprimierte sie zutiefst.
Der Regen hatte aufgehört, als sie die Bencoolen Street erreichten. Hibiskusfarbene tropische Dämmerung berührte die höchsten Stahlgipfel des Stadtzentrums.
Die Yung Soo Chim Islamische Bank war ein eher bescheidenes Bauwerk aus den 90er Jahren, ein hochgestellter Karton aus Stahl und Spiegelglas, sechzig Stockwerke hoch.
Vor dem Eingang wartete eine hundert Meter lange Menschenschlange. Sechsunddreißig radelte daran vorbei, wich geübt den automatischen Taxis aus. »Augenblick«, murmelte Laura zu sich selbst. »Ich kenne diese Leute…«
Sie hatte sie alle schon einmal gesehen.
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