Inseln im Netz
aus der Schule kommen - ein einziges Durcheinanderwogen, Rufen, Schulterklopfen.
Laura hielt sich an Singhs Khakiärmel fest. »Hören Sie, ich brauche das alles nicht…«
»Es sind die Leute«, murmelte Singh. Seine Augen blickten glasig und ekstatisch.
»Laßt sie sprechen!« schrie ein Mann in einem weiten, gestreiften Überrock. »Laßt sie sprechen!«
Der Ruf wurde aufgenommen. Zwei junge Burschen rollten eine Mülltonne auf die Straße und stellten sie wie ein Postament vor sie hin. Sie hoben Laura hinauf. Es gab hektischen Applaus. »Ruhe! Ruhe!«
Plötzlich schauten sie alle zu ihr auf.
Laura fühlte einen so tiefen Schrecken, daß sie sich einer Ohnmacht nahe wähnte. Sag etwas, Idiot, schnell, bevor sie dich umbringen. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich schützen wollen«, quäkte sie. Die Menge jubelte - nicht, weil sie ihre Worte verstanden hätte, sondern anscheinend aus Vergnügen darüber, daß sie sprechen konnte wie ein richtiger Mensch.
Sie fand ihre Stimme wieder. »Keine Gewalt«, rief sie. »Singapur ist eine moderne Stadt.« Da und dort dolmetschten Männer mit halblauten Stimmen. Die Menge ringsum wuchs weiter und verdichtete sich. »Aufgeklärte und vernünftige Menschen bringen einander nicht um«, rief sie. Der Sari rutschte ihr von der Schulter. Sie zog ihn wieder zurecht. Die Zuhörer applaudierten, stießen einander. Das Weiße in den Augen ihrer dunklen Gesichter war entnervend.
Es war der verdammte Sari, dachte sie benommen. Es gefiel ihnen. Eine große blonde Ausländerin auf einem Postament, eingehüllt in Grün und Gold, eine verrückte Priesterin der Kali…
»Ich bin bloß eine dumme Ausländerin!« kreischte sie. Ein paar Augenblicke vergingen, bis sie entschieden, ihr zu glauben - dann lachten und applaudierten sie. »Aber ich will nicht, daß Menschen durch Gewalt verletzt werden. Darum will ich ins Gefängnis gehen!«
Verständnislose Blicke. Sie begriffen nicht, was sie sagen wollte. Die Inspiration kam ihr zu Hilfe. »Wie Gandhi!« rief sie. »Der Mahatma. Gandhi.«
Plötzliche Stille.
»Also wäre ich dankbar, wenn einige von Ihnen mich ganz ruhig zu einem Gefängnis bringen würden. Ich danke Ihnen.« Sie sprang von der Mülltonne.
Singh fing sie auf und hielt sie fest. »Das war gut!«
»Sie kennen den Weg«, sagte Laura. »Sie führen uns, ja?«
»Gut!« Singh schwang den Stock über seinem Kopf. »Wir marschieren alle! Zum Gefängnis!«
Er bot Laura seinen Arm. Sie gingen rasch durch die Menge, die vor ihnen auseinanderwich und sich hinter ihnen wieder zusammenschloß.
»Zum Gefängnis!« rief der Gestreifte, auf und nieder springend, mit den Armen fuchtelnd. »Nach Changi!« Andere nahmen den Ruf auf. »Changi, Changi.« Das Ziel schien ihre Energien zu kanalisieren. Die Atmosphäre explosiver Unbesonnenheit verlor sich, Kinder liefen voraus, um sich immer wieder umzuwenden und die marschierende Menge zu bestaunen. Sie gafften und sprangen und stießen einander. Leute beobachteten den Zug aus den Gebäuden zu beiden Seiten. Fenster und Türen wurden geöffnet.
Nach drei Blocks war die Menge noch immer im Anwachsen. Sie marschierten nach Norden. Vor ihnen ragten die zyklopischen Gebäude des Stadtzentrums auf. Ein hagerer Chinese mit glänzend pomadisiertem schwarzem Haar und einem lehrerhaften Ausdruck erschien neben Laura. »Mrs. Webster?«
»Ja?«
»Ich freue mich, mit Ihnen nach Changi zu marschieren! Amnesty International war moralisch im Recht!«
Laura zwinkerte. »Wie?«
»Die politischen Gefangenen…« Die Menge brandete plötzlich vorwärts, und er wurde abgedrängt. Der Zug hatte jetzt eine Eskorte - zwei Polizeihubschrauber, die den Zug überwachten. Laura verzagte, und das Brennen in ihren Augen verstärkte sich mit der Erinnerung, aber die Menge winkte und jubelte, als ob die Hubschrauber eine Art Ehreneskorte wären.
Endlich kam ihr der rettende Gedanke. Sie faßte Singh am Ellbogen. »He! Ich möchte einfach zu einem Polizeirevier gehen. Nicht zur verdammten Bastille marschieren!«
»Wie, Madame?« rief Singh. Er grinste wie in Trance. »Was still?«
O Gott, wenn sie nur davonlaufen könnte! Sie blickte wild umher, und die Leute winkten ihr zu und lächelten; wie idiotisch, diesen Sari anzuziehen. Es war, als wäre sie in grünes Neon gewickelt.
Nun zogen sie mitten durch Singapurs Chinesenviertel. Temple Street, Pagoda Street. Zu ihrer Linken erhob sich die psychedelische, mit Statuen bedeckte Stupa eines Hindutempels. Sri
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