Inseln im Netz
Mariamman lautete die Aufschrift. Beleibte, buntbemalte Göttinnen lächelten einander zu, als hätten sie dies alles zu ihrer Erheiterung geplant. Voraus jaulten Sirenen an einer größeren Kreuzung. Sie marschierten gerade darauf zu. Tausend zornige Polizisten. Ein Massaker. Und dann kam es in Sicht. Überhaupt keine Polizisten, sondern ein anderer Demonstrationszug von Zivilisten. Männer, Frauen und Kinder strömten auf die Kreuzung. Über ihnen ein Transparent, jemandes Bettlaken, zwischen Bambusstangen gespannt. Hastig aufgetragene Schriftzeichen: LANG LEBE KANAL DREI!
Lauras Menge stieß ein erstaunliches, aus tiefstem Herzen kommendes Seufzen aus, als hätte jeder einzelne Teilnehmer an dem Marsch einen lang vermißten Angehörigen entdeckt. Plötzlich liefen alle vorwärts. Die beiden Züge trafen sich und verschmolzen miteinander. Lauras Nackenhaare prickelten. In dieser Menge war etwas freigesetzt, etwas rein Magisches - eine mystische gesellschaftliche Elektrizität. Sie fühlte es in den Knochen, eine triumphierende Freude, ganz im Gegensatz zu der häßlichen Massenpanik, die sie im Stadion gesehen hatte. Auch hier wurden Leute zu Boden gestoßen, aber sie halfen einander wieder auf und umarmten sich.
Sie verlor Singh. Plötzlich war sie allein in der Menge, inmitten eines sinnverwirrenden Wirbels. Sie versuchte die Straße zu überblicken. Einen Block weiter war wieder eine kleinere Menge zu sehen, und eine Traube roter und weißer Polizeiwagen.
Ihr Herz tat einen Freudensprung. Sie arbeitete sich durch die Menge und lief auf die Polizeifahrzeuge zu, so schnell der Sari es ihr erlaubte.
Die Polizisten waren umringt, eingebettet in die Menge wie Schinken in Aspik. Die Leute umdrängten sie einfach und machten sie unbeweglich. Die Türen der Streifenwagen standen offen, und die Polizisten versuchten den Leuten gut zuzureden, doch ohne Erfolg.
Laura drängte sich durch die Menge näher. Alles schnatterte durcheinander, und Laura bemerkte, daß viele Leute die Hände voll hatten - nicht mit Waffen, sondern mit allen sonstigen möglichen Dingen: Broten, Transistorradios, sogar eine Handvoll Ringelblumen sah sie, die jemand aus einem Blumentopf gezogen hatte.
Dies alles hielten sie den Polizisten hin und baten sie, die Sachen anzunehmen. Eine chinesische Matrone vorgerückten Alters rief einem Polizeioffizier leidenschaftlich zu: »Ihr seid unsere Brüder! Wir sind alle Singapurer. Singapurer töten einander nicht!«
Der Offizier vermied es, der Frau in die Augen zu sehen. Er saß mit zusammengepreßten Lippen auf der Kante des Fahrersitzes, in qualvoller Demütigung. Drei Polizisten saßen in seinem Wagen, alle in voller Ausrüstung: Helme, Schutzwesten, Fesselgewehre. Sie hätten die Menge in ein paar Augenblicken auseinandertreiben können, aber sie sahen verwirrt aus, hilflos.
Ein Mann in einem seidenen Straßenanzug streckte den Arm zum offenen Fenster in den Fond hinein. »Nehmen Sie meine Uhr, Wachtmeister! Als Erinnerungsstück! Bitte - dies ist ein großer Tag…« Der Angeredete schüttelte den Kopf mit einem freundlichen, aber benommenen Ausdruck. Sein Nachbar aß einen Reiskuchen.
Laura trat auf den Offizier zu. Er blickte auf und erkannte sie, dann verdrehte er die Augen nach oben, wie um ihr zu verstehen zu geben, daß sie alles sei, was ihm noch gefehlt habe. »Was wollen Sie?«
Laura sagte es ihm halblaut.
»Ich soll Sie hier festnehmen?« erwiderte der Polizeioffizier. »Vor diesen Leuten?«
»Ich kann Sie hier herausbringen«, sagte Laura. Sie kletterte auf die Kühlerhaube des Streifenwagens, stand auf und hob beide Arme. »Bitte hören Sie! Vielleicht kennen Sie mich - ich bin Laura Webster. Bitte lassen Sie uns durch! Wir haben sehr wichtige Angelegenheiten zu regeln! Ja, so ist es recht, machen Sie bitte Platz, meine Damen und Herren… Danke sehr, Sie sind so gute Leute, ich bin Ihnen so dankbar…«
Sie setzte sich auf die Kühlerhaube, die Füße auf die Stoßstange gestemmt. Der Wagen kroch vorwärts, und die Menge wich seitwärts aus. Viele, wenn nicht die meisten Leute, kannten sie nicht, aber sie reagierten instinktiv auf das Totemsymbol einer Ausländerin in einem grünen Sari auf dem Kühler eines Streifenwagens. Laura streckte die Arme aus und machte Schwimmbewegungen. Es wirkte. Die Menge machte die Bahn frei.
Sie erreichten die freie Straße und hielten an. Laura zwängte sich zwischen den Hauptmann und einen Leutnant auf den Vordersitz. »Gott sei Dank«,
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