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Inseln im Wind

Inseln im Wind

Titel: Inseln im Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Santiago
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Haar. Längst hatte sie in der Finsternis des Waldes die Orientierung verloren, sie wusste nicht mehr, wo sie sich befand oder wie viel Zeit vergangen war. Sie wusste nur, dass sie nicht stehen bleiben durfte. Sie durfte nicht schreien und nicht weinen. Sonst würde er sie finden. Etwas biss sie ins Bein. Es tat weh, und bald darauf wurde ihr Fuß taub, sodass sie immer häufiger ins Straucheln geriet. Ihr Seitenstechen wurde schlimmer, ihr Herz fing an zu rasen, und schließlich bekam sie kaum noch Luft. Sie musste ausruhen. Nur einen kurzen Moment, dachte sie. Ich setze mich nur eben hin und atme richtig durch, dann gehe ich weiter.
    Das Bein knickte unter ihr weg. Sie torkelte noch ein paar Schritte, dann sackte sie zu Boden und rollte einen Abhang hinunter. Es ging immer weiter und weiter, sie konnte sich weder abstützen noch festhalten, ihre Arme gehorchten ihr nicht mehr. Schließlich schlug ihr Kopf wuchtig gegen einen Baumstamm, und der Aufprall löschte augenblicklich jede bewusste Wahrnehmung aus.
    44
    E lizabeth und Felicity waren Stunden um Stunden in der Kammer herumgelaufen, sie hatten sich die Fäuste an der Tür und an den Brettern vor dem Fenster blutig gehämmert und so oft um Hilfe gerufen, bis ihre Stimmen vom vielen Schreien heiser waren.
    Elizabeth hatte versucht, mit dem Schemel die Bretter wegzuschlagen, doch Harold hatte ganze Arbeit geleistet – sie bewegten sich keinen Zoll aus ihrer Verankerung. Als die Kräfte sie verlassen hatten, war Felicity eingesprungen und hatte ihr Glück versucht, ohne Erfolg. Schließlich waren sie beide ermattet aufs Bett gesunken, hatten sich gegenseitig beteuert, dass schon bald jemand vorbeikommen und sie hier herausholen werde. Martha konnte doch nicht ewig schlafen, egal wie viel Laudanum sie vorher zu sich genommen hatte – irgendwann würde sie aufwachen und ihnen aufschließen.
    Dann war ihre letzte Kerze niedergebrannt, und auf einmal hatte Felicity angefangen zu zittern und zu schluchzen, immer lauter, bis Elizabeth sie packen und schütteln musste.
    » Wir werden sterben!«, schluchzte Felicity. » Wir kommen nie mehr hier raus!«
    Elizabeth, selbst vor Sorgen halb um den Verstand gebracht, erging sich in Stoßgebeten. Sie flehte zu Gott, dass ihrem Kind nichts geschah. Ich will nicht weiterleben, wenn Johnny nicht mehr da ist, dachte sie. Sie hatte nie verstanden, wie Frauen, deren Kinder gestorben waren, hinterher ins normale Leben zurückfanden. Wie sie es aushielten, jeden Tag aufzustehen, ihre alltäglichen Pflichten zu verrichten und abends zu Bett zu gehen, als könne jemals alles wieder gut werden. Gott im Himmel!, betete sie, ihr Flehen stumm in die Dunkelheit hinaussendend. Gib, dass Duncan herkommt! Dass er mir Johnny gesund und wohlbehalten zurückbringt.
    Als hätte der Herr ihre Gebete erhört, waren bald darauf Schritte auf der Treppe zu vernehmen. Elizabeth sprang vom Bett auf und tastete sich durch die Dunkelheit zur Tür. Sie fiel über den Schemel und fluchte undamenhaft, ohne Rücksicht auf ihre gerade erst beendete Zwiesprache mit Gott.
    » Zu Hilfe! Hier sind wir!« Sie ergriff abermals den Schemel und schlug ihn gegen die Tür, bis ihr von dem Krachen alle Knochen vibrierten. » Hier oben!«
    Jemand machte sich an der Tür zu schaffen, eine Frauenstimme war zu hören, doch Elizabeth konnte die Worte nicht verstehen, weil ihr Herz so laut schlug, dass es ihr in den Ohren dröhnte.
    Martha, dachte sie dankbar. Endlich!
    Der Schlüssel wurde herumgedreht, die Tür flog auf. Vor ihr stand Deirdre. Sie blickte Elizabeth mit weit aufgerissenen Augen an.
    Die junge Schuldmagd, die von einem zerschlissenen Umhang umhüllt war, schlug ihre Kapuze zurück und trat ins Zimmer. Sie atmete aus, als sie Felicity sah.
    » Dem Himmel sei Dank! Ihr seid beide wohlauf!«
    » Deirdre!« Elizabeth konnte es nicht fassen. » Wo kommst du denn auf einmal her?« Ihr Blick fiel auf den schlaksigen jungen Mann, der hinter der Irin stand und eine Laterne hielt. » Wer ist das?«
    » Edmond Fitzgerald«, sagte Deirdre. » Er ist mitgekommen, um mir zu helfen, Euch zu befreien.«
    Der Mann nahm seinen Hut ab und verbeugte sich kurz. Er war schlicht gekleidet, wie ein Knecht. Die widerspenstigen braunen Haare waren ungewöhnlich kurz geschnitten. Sein schmales, sommersprossiges Gesicht wirkte verhärmt, aber entschlossen. Etwas an seiner Haltung deutete darauf hin, dass er kein Bediensteter war. Elizabeth bemerkte das silberne Kreuz, das er um den Hals

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