Inseln im Wind
vertrautes Gesicht zeigte einen Ausdruck, den sie bereits kannte. Er schien aufgebracht zu sein, gleichzeitig aber auch auf eine Weise um sie besorgt, wie sie es schon häufiger bei ihm wahrgenommen hatte. Anfangs hatte sie gedacht, dass er sich auf seine mitfühlende Art um alle versprengten Seelen sorgte, die den Weg zu ihm in die Hügel gefunden hatten. Er betete mit jedem einzelnen der Iren und Schotten, die sich zu dem Versteck durchgeschlagen hatten, und denen, die blieben, verschaffte er eine Möglichkeit unterzutauchen. Stets handelte er unter Einsatz seines eigenen Lebens, ob er nun Messen las oder denen half, die weggelaufen waren, so wie sie selbst. Sie waren Verfemte, alle miteinander, und ihr Leben war keinen Penny wert, sollte man sie je ergreifen.
Er hatte sie zu dem Versteck geführt, wo auch die übrigen Schuldknechte kampierten, zusammen mit den entflohenen Sklaven, doch schon nach der nächsten Messe in dem schief zusammengenagelten Bretterverschlag im Wald, den er Kapelle nannte, hatte sich ein Problem ergeben, bei dem er ihre Hilfe brauchte. Eine der Schuldmägde war von ihrem Herrn wegen ihrer fortschreitenden Schwangerschaft mit Prügeln verjagt worden. Dass der Mann selbst der Urheber ihrer Schande war, hatte ihn nicht gekümmert. Bevor Edmond sie zum Lager der anderen Flüchtlinge hatte bringen können, war sie in der Kapelle niedergekommen. Das Kind war bald darauf gestorben, und die Frau war zu schwach, um aufzustehen und fortzugehen. Ein Fieber hielt sie in den Klauen, niemand konnte sagen, ob sie überleben würde. In dieser Lage hatte Edmond Deirdre um Hilfe gebeten, und sie hatte sie ihm bereitwillig gewährt. Gemeinsam hatten sie bei der Kranken gewacht, hatten ihr Wasser eingeflößt und kalte Wickel aufgelegt, hatten mit ihr gebetet und ihr versprochen, ihren Eltern eine Nachricht zukommen zu lassen. Sie hatten es ihr so leicht wie möglich gemacht, bis der Tod beim nächsten Regenschauer in die schwüle, mückenschwirrende Enge der Kapelle geweht kam und die Frau mitnahm. Sie hatten den Leichnam beerdigt, direkt neben dem armen Säugling, den Edmond noch vor dem letzten Atemzug hatte taufen können. Gemeinsam hatten sie an dem Grab gestanden, während der Regen aus den Baumkronen auf sie herabtropfte und die Welt in nassen Nebel verwandelte. Deirdre hatte geweint, als Edmond aus den Psalmen betete.
» Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele; er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang …«
Ihr war elend zumute gewesen, sie hatte sich so erbärmlich schwach und einsam gefühlt. Anders ließ sich nicht erklären, warum sie sich Trost suchend an ihn gedrängt hatte. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, brüderlich und schützend, worauf sie sich noch dichter an ihn geschmiegt und beide Arme um seinen Leib geschlungen hatte. Nach anfänglichem Zögern hatte er sie ebenfalls umarmt, hatte sie gehalten und war dort mit ihr im Regen stehen geblieben. Sie hatte die Wärme seines Körpers gespürt und weitergeweint, doch mit einem Mal war ihr nur noch halb so weh ums Herz gewesen wie zuvor.
Mehr hatte sich nicht zwischen ihnen entwickelt seither, wenngleich sie sich oft getroffen hatten, nicht nur zur Messe oder zur Beichte. Es gab immer Verrichtungen, bei denen sie ihm helfen konnte. Etwa beim Säubern der Kapelle. Oder beim Kerzendrehen, wenn einer der Schuldknechte alte Wachsstummel mitgebracht hatte. Oder beim Beseitigen der Schlingpflanzen, die sich durch die beiden schmalen Fenster ins Innere der jämmerlichen kleinen Holzkirche bohrten. Immer war sie diejenige, die ihm ihre Hilfe antrug, doch stets nahm er ihre Angebote bereitwillig an. Und er ging dabei auf eine Weise mit ihr um, die ihr das Gefühl gab, ein wertvoller und geachteter Mensch zu sein. All der Dreck und das Elend, in dem sie beide hausten und sich vor der Welt versteckten, waren in solchen Augenblicken nebensächlich. Wenn sie bei ihm war, fühlte sie sich innerlich heil.
Er ging mit Riesenschritten voraus, die Laterne in grimmiger Haltung vor sich her tragend. Deirdre hätte sich gern bei ihm eingehakt, weil sie das Bedürfnis hatte, ihm nah zu sein, doch solche Vertraulichkeiten durfte sie sich ihm gegenüber nicht wieder herausnehmen. Zugleich ahnte sie, dass
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