Inseln im Wind
mit dem Fuß anstieß, ließ er ein leises Schnaufen hören. Doch er hatte schon das Bewusstsein verloren. Sprechen würde er jedenfalls nie wieder.
Harold blickte sich wachsam nach allen Seiten um, die Pistole mit beiden Händen umfassend. Er schwitzte heftig, obwohl er sich nur langsam bewegt hatte. Angst und Aufregung hatten sich seiner bemächtigt, vor allem aber gewaltige Schadenfreude. Dieser verdammte Noringham! Jetzt hatte er seinen eigenen Sklavenaufstand am Hals! Harold gönnte es ihm mit solcher Inbrunst, dass er fast laut aufgelacht hätte. Er stieß den Aufseher erneut mit dem Fuß an, diesmal härter, und empfand dabei grimmige Befriedigung. Ob der Kerl irgendwo seine Peitsche verwahrt hatte? Kurz entschlossen stieg Harold über den Sterbenden hinweg und betrat die Hütte. Er fuhr zusammen, als er dort weitere Gestalten auf dem Boden sah – zwei Kinder, allem Anschein nach die des Aufsehers, denn ihre Haut hatte die Farbe von hellem Holz. Ein paar Schritte weiter lag die Mutter, ein fettes schwarzes Weib mit aufgetriebenem Bauch. Man hatte alle drei mit der Machete massakriert. Um sie herum hatten sich Blutlachen ausgebreitet, die noch nicht trocken waren. Harold hielt sich nicht damit auf, die Peitsche zu suchen. Stattdessen machte er sich auf zum Herrenhaus.
Auch hier herrschte gespenstische Ruhe. Im Salon und auf der Veranda brannten Laternen, ein anheimelndes Flackern erfüllte die Dämmerung. In einem Sessel auf der Veranda saß Lady Harriet und las in einem Buch. Offensichtlich hatte sie von den Ereignissen nichts mitbekommen. Die Aufständischen mussten ebenso schnell wie lautlos gemordet haben, wahrscheinlich hatte keines der Opfer Zeit zum Schreien gehabt. Harold musterte Harriet aufmerksam. Es verschaffte ihm ein Gefühl von Macht und Überlegenheit, dass sie nicht ahnte, was geschehen war. Er steckte sich die Pistole in den Gurt und trat zu ihr.
» Du wirst dir noch die Augen verderben«, sagte er. Sofort ärgerte er sich, weil ihm nichts Besseres eingefallen war als diese profane Bemerkung, doch der Schrecken, den er ihr damit eingejagt hatte, hätte nicht größer sein können, was ihn mit diebischer Freude erfüllte.
» Harold, mein Gott!« Sie hatte das Buch fallen lassen und sich die Hände aufs Herz gepresst. Ihre Augen waren weit aufgerissen. » Was tust du denn hier?«
» Ich wollte mich mit einem von euren Schwarzen unterhalten. Dem alten Kerl mit der Muschelkette.«
» Du meinst Abass?«
» Ganz recht. Doch er ist fort. Die anderen sind auch alle weg.«
Sie runzelte die Stirn.
» Was meinst du mit we g ?«
» Na, abgehauen. Kein einziger Schwarzer mehr auf Summer Hill.«
Beunruhigt erhob sie sich von ihrem Stuhl. » Dann sollte ich den Aufseher …«
» Den kannst du vergessen«, sagte Harold. » Sie haben ihn abgestochen wie ein Schwein. Genauso wie seine Brut und seine Hure. Liegen alle tot in seiner Hütte.«
Harriet schwankte, sie musste sich an einer Säule festhalten.
» Was sagst du da?«, flüsterte sie. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren, es war so weiß wie die Säule neben ihr.
» Wen hast du noch im Haus?«, fragte er.
» Anne ist hier, und Ella, die Zofe, außerdem Mary, unsere Schneiderin. Zwei schwarze Hausmädchen …«
» Die sind auch verschwunden, darauf kannst du wetten. Ihr könnt froh sein, dass sie euch nicht ebenfalls die Kehle durchgeschnitten haben.« Er blickte sich um. » Obwohl … Vielleicht warten sie nur in der Dunkelheit, bis ich fort bin, damit sie das noch erledigen können. Es ist bestimmt keine fünf Minuten her, dass sie den Aufseher aufgeschlitzt haben.«
Angstvoll starrte sie ihn an.
» Du meinst … Um Gottes willen, Harold!«
» Harold, Harold«, äffte er sie nach. » Das klingt ja fast so, als würdest du mich um Hilfe anbetteln!«
» Harold, ich bitte dich, um der Liebe Christi willen …«
» Hör bloß auf, von Liebe zu reden«, unterbrach er sie grob. » Du weißt doch überhaupt nicht, was Liebe bedeutet. Erinnerst du dich? Du hast behauptet, mich zu lieben, aber kaum kommt so ein Lackaffe von Lord daher und winkt mit dem Ehering, bin ich bloß noch der schäbige Emporkömmling, nicht gut genug für ein ganzes Leben.«
» Harold, ich konnte nicht anders! Die Kinder, Anne und William … Ich hatte meiner Schwester auf dem Totenbett versprochen …«
» Du warst mit mir verlobt«, fiel er ihr schneidend ins Wort.
Sie rang die Hände und brach in Tränen aus. Fast hätte er Mitleid mit ihr bekommen. Aber nur
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